Uneingeschränkter Zugang

Who are „Young Carers”? Analysis of the Use of the Term in German Speaking Countries and Development of a Definition / Wer sind Young Carers? Analyse der Begriffsverwendung im deutschsprachigen Raum und Entwicklung einer Definition


Zitieren

Einleitung

Im Falle von Erkrankung oder Beeinträchtigung nimmt die Familie bis heute eine zentrale Rolle in der Übernahme von Pflegeaufgaben ein. So zeigt die aktuelle Pflegestatistik für Deutschland, dass im Jahr 2015 2,9 Millionen Menschen pflegebedürftig waren, von denen 73 % zu Hause gepflegt wurden. Etwa 1,38 Millionen von ihnen werden durch Angehörige, weitere 692.000 zusammen mit oder ausschließlich durch ambulante Pflegedienste versorgt (Statistisches Bundesamt, 2017). In Österreich (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, 2015) und der Schweiz (Bundesamt für Statistik, 2018) ist die Situation vergleichbar und der Anteil der Pflegedürftigen steigt dabei in den drei Ländern an. Nach wie vor wird die Pflege häufig von weiblichen Familienangehörigen übernommen (Klaus & Tesch-Römer, 2016), wobei im OECD-Durchschnitt deutlich wird, dass fast zwei Drittel von ihnen über 50 Jahre alt sind (Colombo, Llena-Nozal, Mercier & Tjadens, 2011). Die geleistete Unterstützung der Angehörigen beginnt jedoch nicht erst mit der vom Gesetzgeber anerkannten Pflegebedürftigkeit eines Familienmitglieds. Schon davor übernehmen Angehörige relevante Aufgaben: Sie unterstützen im Haushalt, übernehmen Einkäufe oder begleiten bei Arztbesuchen (Nowossadeck, Engstler & Klaus, 2016). Eine in der Forschung und Praxis wenig beachtete Gruppe, die in die Betreuung und Pflege von Familienangehörigen sowie anderen Nahestehenden eingebunden ist, sind Kinder und Jugendliche. Sie übernehmen die gleichen Aufgaben, die erwachsene pflegende Angehörige ausführen, und tragen dabei ein hohes Maß an Verantwortung für die unterstützten Personen und das gesamte familiale System (Metzing, Schnepp, Hübner & Büscher, 2006). Diese vulnerable Gruppe benötigt daher besondere Aufmerksamkeit (Leu & Becker, 2017).

Hintergrund

Young Carers, Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige, leben in Bezug auf ihre Pflegerolle häufig im Verborgenen (The Children’s Society, 2013) und sprechen nicht über ihre Situation: sei dies aus Scham oder aus Angst, dass Behörden und Institutionen auf ihre Familiensituation aufmerksam und mögliche Konsequenzen ergriffen werden (Leu & Frech, 2015). Daraus resultiert der Begriff der children hiding from view (The Children’s Society, 2013), die im Verborgenen agieren und weder in der Öffentlichkeit noch von Fachleuten des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens wahrgenommen werden (Gray, Robinson & Seddon, 2008; Kaiser, Schulze & Leu, 2018; Leu & Becker, 2016; Leu, Frech & Jung, 2018) . Auch wird die Übernahme von Pflege häufig als etwas Normales und Alltägliches angesehen, wodurch keine Selbstidentifizierung stattfindet (Smyth, Blaxland & Cass, 2011). Young Carers sind ein globales Phänomen, deren übernommene Aufgaben und die Auswirkungen sich in europäischen Ländern wie auch in den USA und Australien kaum unterscheiden (Becker, 2007). Quantitative Studien zur Prävalenz zeigen prozentuale Anteile pflegender Kinder und Jugendlicher zwischen 2,1 % und 8 % (Becker & Leu, 2014). In Deutschland wird von einer Prävalenz von 5 % pflegender Jugendlicher zwischen 12 und 17 Jahren ausgegangen (Lux & Eggert, 2017) und von 3,5 % in Österreich (Nagl-Cupal et al., 2012) Für die Schweiz liegen die ersten repräsentativen Daten vor: Die Prävalenz für Young Carers im Alter von 10 bis 15 Jahren beträgt 8 % (Leu, Frech, Wepf et al., 2019). Die unterschiedlich hohen Prävalenzen lassen sich durch verschiedene definitorische und methodische Herangehensweise erklären.

International werden diese Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre als Young Carers bezeichnet, die jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 24 als Young Adult Carers (Becker & Becker, 2008). Zu Beginn der Forschung in den 1990er-Jahren in Großbritannien wurden Young Carers als „those people under the age of 18 who are providing primary care for a sick or disabled relative in the home“ (Aldridge & Becker, 1993) definiert. Aufbauend auf ein vertieftes Wissen über die Zielgruppe entwickelte Becker im Jahr 2000 die folgende Definition: “We define young carers as children and young persons under 18 who provide or intend to provide care, assistance or support to another family member. They carry out, often on a regular basis, significant or substantial caring tasks and assume a level of responsibility that would usually be associated with an adult. The person receiving care is often a parent but can be a sibling, grandparent or other relative who is disabled, has some chronic illness, mental health problem or other condition connected with a need for care, support or supervision” (Becker, 2000, S. 378).

In Großbritannien wurden für diese Gruppe bereits seit Anfang der 1990er-Jahre erste rechtliche Grundlagen zur Verbesserung ihrer Situation verabschiedet. Im Jahr 2014 wurde der Children and Families Act gesetzlich verankert (Legislation.gov.uk 2014). Seit über zehn Jahren erhalten diese jungen Menschen Hilfe in spezifischen Unterstützungsprojekten (Becker, 2007). Während in Großbritannien ein breites Bewusstsein der Öffentlichkeit zu Young Carers existiert, ist dieses in Deutschland, Österreich und der Schweiz noch wenig ausgeprägt (Leu & Becker, 2016). Nichtsdestotrotz sind in den drei Ländern in den vergangenen Jahren erhöhte Forschungsaktivitäten, die sich mit der Situation der Zielgruppe auseinandersetzen, sichtbar. Besonders in der Schweiz werden in nationalen wie auch internationalen Projekten zahlreiche Studien zu Young Carers durchgeführt. Zurzeit entstehen einzelne Unterstützungsprojekte von Nichtregierungsorganisationen, Selbsthilfegruppen oder staatlichen Akteuren, wie dem Bundesministerium für Familien, Frauen, Senioren und Gesundheit in Deutschland, die die Zielgruppe als sozialer Akteur wahrnimmt (Leu & Becker, 2016).

Ausgangslage für den deutschsprachigen Raum

In den frühen wissenschaftlichen Arbeiten wurde der in Großbritannien geprägte Begriff „Young Carers“ mit „pflegende Kinder und Jugendliche“ (Dietz, 1994) oder „Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige“ ins Deutsche übersetzt (Metzing et al., 2006; Metzing & Schnepp, 2007). Neuere deutschsprachige Publikationen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz verwenden unterschiedliche Bezeichnungen, wie „Kinder als Sorgende, Kinder kranker Eltern, Geschwister von Kindern und Jugendlichen mit chronischer Erkrankung, junge Pflegende, pflegende Kinder und Jugendliche, pflegende und unterstützende oder pflegende und betreuende Kinder und Jugendliche“ oder den englischsprachigen Begriff „Young Carers“ (siehe Tabelle 3).

Die acht Schritte der Begriffsanalyse nach Walker und Avant (2014, S. 166)

1.Wahl eines Begriffs
2.Bestimmung der Ziele oder Zwecke der Analyse
3.Bestimmung jeglichen Gebrauchs des Begriffs
4.Festlegung der bestimmenden Attribute
5.Konstruktion eines Modellfalls
6.Konstruktion von Fällen, die ähnlich, gegensätzlich, fiktiv, irreführend oder Grenzfälle sind
7.Bestimmung der Voraussetzungen und Folgen
8.Bestimmung empirischer Referenzen

Auswahlkriterien der Literaturrecherche

Einschlusskriterien
Schlagwörteryoung carers, adolescent young carers, pflegende Kinder/Jugendliche, betreuende/unterstützende Kinder/Jugendliche, minderjährige pflegende Angehörige, minderjährige Angehörigenpflege, Kinder/Jugendliche kranker Eltern, Kinder/ Jugendliche kranker Geschwister
ZeitraumVeröffentlichung zwischen 1990–2017
Spracheausschließlich deutschsprachige Quellen
Dokumentenartwissenschaftliche Artikel, Dissertationen und Beiträge (nicht peer-reviewed)
PopulationDie Analyse fokussierte sich auf Begrifflichkeiten zu pflegenden Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren.

Zusammenstellung der Begrifflichkeiten zu Young Carers im deutschsprachigen Raum (alphabetisch sortiert)

BegrifflichkeitenTreffer (n=32)
Adoleszente Kinder alkoholkranker Eltern(Ulrich, Stopsack & Barnow, 2010)
Betreuende und pflegende Kinder und Jugendliche(Leu et al., 2016a)
(Knecht et al., 2015)
Geschwister von Kindern und Jugendlichen mit chronischer Erkrankung(Tröster, 2013)
http://www.geschwisterkinder-netzwerk.de/
Geschwisterkinderhttp://www.stiftung-familienbande.de/
Jugendliche mit Pflegebedürftigkeit in der Familie(Zentrum für Qualität in der Pflege, 2017)
Junge Pflegende(Zentrum für Qualität in der Pflege, 2017)
Kinder als Sorgende(Wihstutz & Schiwarov, 2016)
(Lenz, 2014)
(Matejat, Lenz & Wiegand-Grefe, 2013)
(Knecht et al., 2015)
(Ortner, 2014)
(Albermann et al., 2014)
(Großmann, 2015)
Kinder kranker Eltern: Unterteilungen nach unterschiedlichen Krankheitsbildern (Krebs, Sucht, Beeinträchtigung, etc.) oder Kategorien (körperlich, psychisch, kognitiv, etc.)(Romer, 2007)
(Romer & Haagen, 2007)
(Sanders, 2008)
(Arenz-Greiving & Kober, 2007)
(Jordan, 2010)
(Jungbauer & Lenz, 2008)
(Prangenberg, 2008)
(Metzing et al., 2006)
(Metzing, 2007)
Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige((Metzing Metzing-& Blau Schnepp, & Schnepp, 2007) 2008)
(Nagl-Cupal et al., 2012)
(Leu et al., 2016a)
Kinder und Jugendliche aus alkoholbelasteten Familien(Klein, 2005)
Kinder und Jugendliche mit Pflegeaufgabenhttp://www.echt-unersetzlich.de
Kindliche Pflege(Nagl-Cupal et al., 2015)
(Kaiser, 2017)
(Kaiser & Schulze, 2014)
(Leu et al., 2016b)
(Nagl-Cupal et al., 2012)
Pflegende Kinder und Jugendliche(Metzing et al., 2006)
(Metzing & Schnepp, 2007)
(Schulze & Kaiser, 2017)
https://www.superhands.at
Pflegende und unterstützende Kinder und Jugendliche(Leu et al., 2016b)
(Romer, 2007)
Schattenkinder(Romer & Haagen, 2007)
Verborgene Kinder(Leu & Frech, 2015)
(Großmann, 2015)
Young Carers(Leu et al., 2016b)
http://youngcarers.de

Die in diesen Studien verwendeten Terminologien orientieren sich in ihrer Definition an der britischen Young-Carers-Definition von Becker (2000). Großmann (2015) merkt zur Terminologie an, dass es bisher keine adäquate Übersetzung des englischsprachigen Begriffs „Young Carers“ ins Deutsche und somit keine einheitliche Begriffsverwendung für diese Zielgruppe gibt. Valide Konzepte und einheitliche Begriffe sind jedoch wesentlich für die (Weiter-) Entwicklung von Wissenschaft und Praxis (Duncan, Cloutier & Bailey, 2007). An diesem Punkt setzt der vorliegende Artikel an, indem eine systematische Analyse der deutschsprachigen Begriffsverwendungen des Young-Carers-Konzeptes durchgeführt wird, um darauf aufbauend eine Definition der Zielgruppe für den deutschsprachigen Raum zu entwickeln. Demnach wurden folgende Fragen verfolgt:

Welche Bezeichnungen finden sich in der deutschsprachigen Literatur zu dem Begriff „Young Carers“?

Welche Bedeutungen werden diesen Bezeichnungen im deutschsprachigen Raum zugeschrieben?

Durch die Begriffsanalyse entsteht eine Systematik in der Verwendung des Young-Carers-Konzeptes, durch die die Kommunikation in Forschung, Praxis und Politik gefördert werden kann (Walker & Avant, 1998).

Methode

Die Begriffsbestimmung wird durch die Methode der Begriffsanalyse (auf Englisch concept analysis)

nach Walker und Avant (2014) durchgeführt. Die Begriffsanalyse ist ein methodisches Vorgehen, um sich mit den Eigenschaften eines Begriffs auseinanderzusetzen (Walker & Avant, 2014) und Termini zu präzisieren, wodurch die Entwicklung von Definitionen ermöglicht wird. Mit den acht Schritten des Verfahrens wird die Verwendung des Begriffs Young Carers systematisch aufgearbeitet und die verschiedenen Bedeutungen analysiert (s. Tab. 1). Diese theoretische Auseinandersetzung findet dabei multidisziplinär vor dem Hintergrund der Pflegewissenschaft, (Sonder-) Pädagogik und den Rechtswissenschaften sowie trinational aus deutscher, schweizerischer und österreichischer Perspektive statt.

Anhand einer Literaturrecherche (s. Abb. 1) in den Datenbanken CINAHL, PubMed, SocINDEX, PsychINFO sowie google scholar wurde im Zeitraum von April bis August 2017 anhand von Schlagwörtern und Einschlusskriterien nach weiteren zugehörigen Begriffen gesucht. Es handelte sich hier nicht um eine systematische Literaturrecherche im klassischen Sinne, sondern, wie von Walker und Avant (2014) vorgeschlagen, um eine breite Sichtung der relevanten Begrifflichkeiten, die sich in der wissenschaftlichen Literatur, aber auch in Lexika und nicht-wissenschaftlichen Dokumenten finden oder auf Hinweise von Fachpersonen stützen. Diese Suche fand in allen drei Ländern nach der gleichen Systematik statt. Über (Unterstützungs-)Angebote von Institutionen, Behörden und Selbsthilfeorganisationen sowie anhand von grauer Literatur wurden per Handsuche deren Definitionen zur Zielgruppe in die Aufstellung gebräuchlicher Begriffe einbezogen und somit sukzessive erweitert (s. Tab. 2):

Abbildung 1

Rechercheprozess der Literaturrecherche zu Begriffen von pflegenden Kindern und Jugendlichen

Ergebnisse
Schritt: Wahl des Begriffs

Das zunehmende Interesse und Bewusstsein zu pflegenden Kindern und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum sowie die Erkenntnis, dass in der Fachliteratur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bisher keine einheitliche Definition zum Phänomen der Young Carers

zur Verfügung steht, bildete die Grundlage zur Wahl des Begriffes.

Schritt: Bestimmung der Ziele oder Zwecke der Analyse

Mit der Analyse wird das Ziel verfolgt, die Bedeutung des Begriffs Young Carers im deutschsprachigen Raum zu klären. Die Literatur wurde dahingehend aufgearbeitet, welche Begriffe für den im englischen Sprachraum verwendeten Begriff „Young Carers“ im deutschsprachigen Raum verwendet werden. Anhand dieser Auseinandersetzung soll eine Definition entwickelt werden, die eine Basis für das Verständnis der Zielgruppe in der Praxis bildet und zum wissenschaftlichen Diskurs im deutschsprachigen Raum beiträgt.

Schritt: Bestimmung jeglichen Gebrauchs des Begriffs

Es wurden in allen drei Ländern die vorherrschenden Begrifflichkeiten in Bezug auf die Zielgruppe sowie deren entsprechenden rechtlichen Grundlagen recherchiert und verglichen.

Folgende Begrifflichkeiten zum Phänomen der Young Carers finden im deutschsprachigen Raum Verwendung (s. Tab. 3):

Die Zusammenstellung der verwendeten Begrifflichkeiten in Bezug auf das Young-Carers-Konzept verdeutlicht einen eindeutigen Schwerpunkt auf dem Pflegebegriff. Die folgende Begriffsanalyse fokussiert sich daher auf die erstmalige Übersetzung von Dietz (1994) und später von Metzing und Schnepp (2007) gebrauchte und häufigste Übersetzung: Pflegende Kinder und Jugendliche. Um ein möglichst breites Spektrum des Begriffsverständnisses zu pflegenden Kindern und Jugendlichen zu erfassen, werden zunächst die Begriffe „Kinder und Jugendliche“ und „Pflege“ definiert. Im Anschluss wird auf das Konzept pflegende Kinder und Jugendliche als Young Carers eingegangen.

Kinder und Jugendliche

Die Bezeichnungen „Kinder“ und „Jugendliche“ aus rechtlicher Perspektive sind nicht scharf getrennt und werden überlappend verwendet. Gestützt auf die UN-Kinderrechtskonvention werden Kinder als „jeder Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt“ (Convention on the Rights of the Child, 1989) definiert. Sowohl in Deutschland, Österreich wie auch der Schweiz gilt man mit Vollendung des 18. Lebensjahrs als mündig. Gemäß Definition bezeichnet die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Begriff der Jugend als die Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen (Convention on the Rights of the Child, 1989). Bei den Jugendlichen wird aufgrund unterschiedlicher Herausforderungen in den Lebensphasen des Weiteren zwischen zwei Kategorien unterschieden: diejenige der Teenager (13 bis 19 Jahre) und der jungen Erwachsenen (20 bis 24 Jahre). Entwicklungspsychologisch sehen Piaget, Kohlberg wie auch Erikson in ihren Modellen zur Moralentwicklung und zur psychosozialen Entwicklung keine genauen Altersgruppen, die zwischen Kindern und Jugendlichen unterscheiden: Die verschiedenen Stufen sind in ihren Übergängen als fließend zu betrachten und bauen aufeinander auf (Erikson, 1968; Kohlberg, 1995; Piaget & Inhelder, 1993). Im Gegensatz zur entwicklungspsychologischen Perspektive, in der Kindheit und Jugend fließend bzw. stufenartig verlaufen

und im Individuum nicht immer eindeutig definierbar sind, findet rechtlich eine Trennung von Kindheit und Jugend zum Erwachsensein mit dem 18. Geburtstag statt.

Pflege

Der Begriff Pflege fasst eine Vielzahl von Bedeutungen im alltagssprachlichen, im fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs. Laut Duden fasst der Begriff Pflege als Substantiv: „(1) das Pflegen; sorgende Obhut; (2) Behandlung mit den erforderlichen Maßnahmen zur Erhaltung eines guten Zustands; (3) Mühe um die Förderung oder [Aufrecht] erhaltung von etwas Geistigem [durch dessen Betreiben, Ausübung]“ (Duden Online-Wörterbuch, 2016a). Die Begriffsverwendung des ersten Aspekts wird anhand des Verbs pflegen deutlich: „sich sorgend um jemanden [der krank, gebrechlich ist] bemühen, um ihn in einen möglichst guten [gesundheitlichen] Zustand zu bringen oder darin zu erhalten“ (Duden Online-Wörterbuch, 2016b). Dieser Begriffsdefinition wohnt ein handelnder Aspekt inne, in dem eine Aktivität für andere mit einem Ziel ausgeführt wird. Das dazugehörige Adjektiv sorgend weist weitergehend einen Beziehungsaspekt auf. Dieser Beziehungsaspekt spielt auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Pflegebegriff eine bedeutsame Rolle. So diskutiert Schnepp bereits 1996 in Auseinandersetzung mit dem englischen care-Begriff die pflegekundige Sorge. Konzeptuell lassen sich drei Definitionsansätze des Pflegebegriffs unterscheiden (Pfau-Effinger, Och & Eichler, 2008): (1) ein körperbezogenes Konzept, das Pflege im engen Verständnis als medizinisch-therapeutische Handlung definiert. (2) Ein tätigkeitsbezogenes Konzept, mit dem Pflege neben der medizinisch-therapeutischen Handlung auch die Hilfe bei der Alltagsbewältigung umfasst. (3) Das dritte Konzept wird als soziales Konzept definiert, das „darüber hinaus auch die Einbettung der Pflege in eine soziale Beziehung“ (Pfau-Effinger et al., 2008, S. 89) einschließt. Dieses Konzept geht einher mit dem englischen social care, der Sorgearbeit. Bezugnehmend auf das zweite, tätigkeitsbezogene Konzept schlagen Wepf, Kaspar, Otto, Bischofberger und Leu (2017) für die Schweiz vor, die Begriffe „Pflege“ und „Betreuung“ mit dem Unterstützungsbegriff zu ersetzen, denn er deckt die Bandbreite an Tätigkeitsfeldern – von krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen über Mobilität, Haushalt bis hin zur Planung und Koordination im Bereich Versorgungsarrangements – der Angehörigen von Menschen mit Unterstützungsbedarf ab.

Pflegende Kinder und Jugendliche

Kinder und Jugendliche, die pflegerische Aufgaben innerhalb der Familien übernehmen, sind gesellschaftlich betrachtet kein neues Phänomen. Erst mit einem veränderten Blick auf Kindheit und Entwicklung rückt die Situation als etwas Besonderes in den Vordergrund. Deutlich zeigt sich, dass die Situation pflegender Kinder und Jugendlicher sich dabei wenig von erwachsenen pflegenden Angehörigen in Bezug auf die Art und den Umfang der Tätigkeiten, soziodemografische und sozioökonomische Komponenten, Motivation und Auswirkungen unterscheidet (Nagl-Cupal et al., 2012). Die Kinder und Jugendlichen übernehmen Aufgaben, die üblicherweise von Erwachsenen ausgeführt werden. Diese Übernahme trägt zur Unterstützung der nahestehenden Personen, aber auch zum Zusammenhalt des familialen Systems bei. Die Kinder und Jugendlichen „übernehmen Tätigkeiten, die durch die Erkrankung unbesetzt sind, sie füllen die Lücke“ (Metzing, 2007, S. 93). Diese Übernahme ist oftmals nicht bewusst gewählt, sondern basiert auf einer Notwendigkeit, wie zum Beispiel aufgrund fehlender Alternativen (Kaiser, 2017; Metzing-Blau & Schnepp, 2008). Es kann jedoch auch zu negativen Auswirkungen kommen, die sich körperlich, emotional, sozial oder schulisch zeigen können und die Vulnerabilität der Zielgruppe verdeutlichen (Nagl-Cupal et al., 2012). Deutlich wird in der Definition von Becker (2007), auf die ein Großteil der internationalen Studien aufbaut, dass die übernommenen Aufgaben und die Verantwortung der Kinder und Jugendlichen zentrale Charakteristika sind. Die Erkrankung und Beeinträchtigung der Personen ist ein bedingender Aspekt, aber nicht ausschlaggebend, um als pflegendes Kind resp. Jugendlicher bezeichnet zu werden. In der Forschungsliteratur wird mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Zielgruppe nicht ausschließlich Kinder kranker Eltern oder anderer Angehöriger sind, sondern sie aufgrund ihrer spezifischen Situation in ein substanzielles Ausmaß an familiärer Unterstützung involviert sind. Das substanzielle Ausmaß wird dabei unterschiedlich definiert. Auch Kinder körperlich erkrankter Eltern und Kinder von Geschwistern mit schweren Erkrankungen, teilweise auch „Schattenkinder“ genannt, erfahren verstärkt Aufmerksamkeit (Romer, 2007; Romer & Haagen, 2007). In all den Studien wird die Vulnerabilität dieser Kinder und Jugendlichen deutlich (Großmann, 2015), jedoch ist das unterscheidende Kriterium zu pflegenden Kindern und Jugendlichen, dass der Fokus nicht auf der Wahrnehmung als pflegendes Kind liegt (Metzing, 2007) und kein signifikantes oder definiertes Ausmaß an Pflege vorliegt (Nagl-Cupal et al., 2012).

Schritt: Festlegung der bestimmenden Attribute

Pflegende Kinder und Jugendliche unterscheiden sich von ihrer Altersgruppe in der Art der übernommenen Tätigkeiten und dem Ausmaß, in dem sie Verantwortung für ebendiese Tätigkeiten übernehmen (Metzing, 2007). Nahezu alle diese Kinder und Jugendlichen übernehmen mehr oder weniger Verantwortung in der Familie (Metzing, 2007). Die übernommenen Aufgaben bei einer chronischen Erkrankung in der Familie lassen sich gemäß Metzing (2007, S. 106) in folgende Bereiche aufteilen: Hilfen für die Familie, Hilfen für die erkrankte Person, Hilfen für einen gesunden Angehörigen sowie Hilfe für sich selbst. Im Bereich Hilfe für die Familie unterscheidet Metzing die Unterstützung innerhalb des Hauses (putzen, kochen) und außerhalb des Hauses (einkaufen, organisieren). Der Bereich Hilfe für die erkrankte Person beinhaltet sowohl körperbezogene, emotionale, medizinisch/ therapeutische Unterstützung wie auch Aufpassen und Schützen, Unterstützung im Notfall und Übersetzen. Die Betreuung eines gesunden Angehörigen oder von Geschwistern sowie die Entlastung gesunder Eltern fallen in den Bereich Hilfen für einen gesunden Angehörigen. In dem Bereich Hilfen für sich selbst beschreibt Metzing Handlungen für die eigene Person, die normalerweise die Eltern übernehmen würden (den Tagesablauf organisieren, Aufstehen, in die Schule gehen). In einer in Österreich durchgeführten Studie von Nagl-Cupal et al. (2012) wurden die Jugendlichen nach den Tätigkeiten gefragt, die sie in einer Pflegesituation übernehmen. Diese Tätigkeiten wurden in Anlehnung an die oben erwähnten Bereiche von Metzing in die vier Kategorien Haushaltstätigkeiten, Aufgaben außerhalb des Haushaltes, Hilfestellungen für die erkrankte Person und Unterstützung für andere Familienmitglieder eingeteilt (Nagl-Cupal et al., 2012, S. 88). Bei der krankheitsbezogenen Unterstützung handelt es sich zusätzlich um die drei Sub-Kategorien körperliche Unterstützung, Körperpflege und emotionale Unterstützung. «Zudem zeigte die Studie, dass 14 % der identifizierten pflegenden Kinder und Jugendlichen mehr als fünf Stunden am Tag unterstützend tätig sind (Nagl-Cupal et al., 2012). Zusätzlich zu dieser tatsächlich geleisteten Hilfe sind die Kinder und Jugendlichen in Bereitschaft, d. h. sie antizipieren einen Hilfebedarf (Metzing, 2007).

Schritt: Entwicklung eines Modellfalls

„Der Modellfall sollte ein idealtypischer Gebrauch des Begriffs, ein paradigmatischer Anwendungsfall sein“ (Walker & Avant, 2014, S. 174). Der Modellfall beschreibt die Situation eines Mädchens, das im Rahmen der qualitativen Erhebungen des Forschungsprojektes Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene als pflegende Angehörige in der Schweiz (http://www.careum.ch/youngcarers-ebnet) interviewt wurde.

Marie (Pseudonym) ist zehn Jahre alt und besucht eine Gesamtschule. Sie lebt zusammen mit ihren Eltern. Ihr Vater ist häufig für mehrere Wochen geschäftlich im Ausland tätig. Die Mutter, Frau Müller, ist an rheumatoider Arthritis erkrankt. In letzter Zeit häufen sich ihre Schübe. Marie ist über die Erkrankung ihrer Mutter aufgeklärt. Sie macht sich Sorgen um deren Gesundheitszustand. Sie übernimmt regelmäßig den Einkauf, das Kochen, die Kleiderpflege und putzt das Haus. Während der Schübe ist Frau Müller in ihrer Mobilität stark eingeschränkt, weshalb Marie ihr beim Aufstehen, Zähneputzen, Ankleiden etc. helfen muss. Marie macht vor der Schule das Frühstück für ihre Mutter, bereitet die Tabletten vor und bringt ihr das Essen ans Bett, wenn sie nicht aufstehen kann. Es kommt vor, dass Marie deswegen zu spät in die Schule kommt. Ihre Lehrkräfte und ihre Schulklasse wissen nicht über die Situation Bescheid, denn Marie nennt andere Gründe für das Zuspätkommen. In der Schule macht sie sich Sorgen und verlässt den Unterricht mit der Ausrede, auf die Toilette zu gehen, um auf ihr Handy zu schauen. Sie wartet abrufbereit auf eine Nachricht ihrer Mutter, ob sich ihr Zustand verschlechtert hat und sie Hilfe braucht.

Deutlich wird, dass Marie pflegende Aufgaben in unterschiedlichen Bereichen übernimmt. Sichtbar kommt es zu Auswirkungen im schulischen Bereich.

Schritt: Konstruktion von Fällen, die ähnlich, gegensätzlich, fiktiv, irreführend oder Grenzfälle sind

Der sechste Schritt der Begriffsanalyse nach Walker und Avant (2014) diente dazu, ein vertieftes Verständnis zum untersuchten Konzept zu ermöglichen, indem abweichende, unterschiedliche oder ähnliche Fälle untersucht werden. Dazu wurden folgende Grenzfälle und Gegensätze konstruiert:

Grenzfälle. David ist sieben Jahre alt, vor einem halben Jahr wurde bei seinem neunjährigen Bruder Tim Leukämie festgestellt. Die Eltern und David nehmen an der psychoonkologischen Beratung durch das Krankenhaus teil. David ist täglich mit der Erkrankung konfrontiert und sieht die Sorgen seiner Eltern. Er selbst macht sich viele Gedanken, spricht aber nicht offen darüber. In der Schule ist er häufiger als früher abgelenkt. David ist gut in ein soziales und familiäres Netzwerk integriert. Während der chemotherapeutischen Behandlung kommen seine Großeltern und verbringen Zeit mit David und Spielen und Kochen mit ihm, da seine Mutter bei Tim im Krankenhaus ist und sein Vater arbeitet. Die Familie legt Wert darauf, dass die Kinder altersgerecht aufgeklärt sind und ihnen keine zusätzliche Verantwortung auferlegt wird.

Dieser Fall zeigt, dass chronische Erkrankungen und Beeinträchtigungen das familiale System beeinflussen. Dabei muss es nicht zur Übernahme von Pflege durch Kinder und Jugendliche kommen. Insbesondere der Aspekt funktionierender sozialer und familialer Netzwerke kann zur Reduzierung der Verantwortung beitragen.

Pflegende Kinder und Jugendliche können Kinder erkrankter oder beeinträchtigter Eltern, Kinder von Geschwistern mit Erkrankung oder Beeinträchtigung oder Angehörige von anderen erkrankten Verwandten sein. Die übernommenen Tätigkeiten sind dabei nicht immer trennscharf zu erfassen, was im untenstehenden Beispiel deutlich wird.

Gegensätze. Daniela ist 16 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter, bei der keine chronische Erkrankung vorliegt. Die Mutter arbeitet Vollzeit und Daniela muss regelmäßig einkaufen und das Essen vorbereiten, auch muss sie die Wohnung putzen.

Deutlich wird, dass eine Verantwortung übernommen wird, die auch das Maß dessen übersteigen kann, was andere Jugendliche übernehmen. Jedoch liegt keine Erkrankung vor. Metzing illustriert dies an folgendem Beispiel:

„Eine gesunde, aber alleinerziehende Mutter überträgt ihren Kindern vielleicht auch mehr Aufgaben zur Bewältigung des gemeinsamen Alltages als ihr lieb ist und vielleicht gesellschaftlich als „kindgerecht“ akzeptiert wird. Wenn diese Mutter müde nach Hause kommt und wider Erwarten kein Abendbrot für die Familie vorfindet, wird sie möglicherweise schimpfen und Sanktionen erlassen, aber sie wird sich auch an den Herd stellen und kochen. Wenn ,kochen‘ hingegen zu den Aufgaben eines pflegenden Kindes gehört, weil die erkrankte Mutter dazu nicht (mehr) in der Lage ist, gäbe es in dieser Familie am Abends nichts zu essen“ (Metzing, 2007, S. 144).

Schritt: Bestimmung der Voraussetzungen und Folgen

Pflegende Kinder und Jugendliche sind eine soziale Realität. Ein niedriger sozioökonomischer Status bzw. Armut oder die Abwesenheit von familialen und sozialen Netzwerken bedingen die Übernahme von Pflegeverantwortung durch Kinder und Jugendliche genauso wie die subjektiven Gründe „Liebe und Zuneigung zum kranken Familienmitglied“ oder einen „Beitrag zur Entlastung der Familie beitragen zu wollen“ (Kaiser, 2017; Metzing & Schnepp, 2007). Diese Pflegeübernahme kann auch bei einer professionellen Unterstützung weiterbestehen (Aldridge & Wates, 2004; Metzing, 2007). Anhaltende Betreuungs- und Unterstützungsaufgaben können zudem zu eingeschränkten schulischen und beruflichen Chancen und sozialer Isolation führen. Kindern und Jugendlichen bereitet die Vereinbarung von familiären Pflegeaufgaben mit den Anforderungen der Schule Mühe, was zu einem Einbruch des Leistungsniveaus führen kann; dies kann wiederum Folgen für die zukünftige Entwicklung haben. Als weiteres Resultat der nicht-entwicklungsgerechten Übernahme von Pflegeverantwortung können körperliche wie auch psychische Probleme, Probleme in der Schule (Bullying) und Restriktionen in der Ausübung von Freizeitaktivitäten (Hobbys, Freunde treffen) auftreten (Kaiser & Schulze, 2015; Metzing-Blau & Schnepp, 2008). Im Vergleich zu Kindern ohne Pflegeaufgaben kann sich diese Chancenungleichheit negativ auf die Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen auswirken und eine zukünftige soziale Teilhabe verhindern (Aldridge & Becker, 1993; Bjorgvinsdottir & Halldorsdottir, 2014; Kaiser & Schulze, 2015; Metzing-Blau & Schnepp, 2008).

Schritt: Bestimmung empirischer Referenzen

Die bisher aufgeführten Studien zeigen spezifische Charakteristika von Young Carers als pflegende Kinder und Jugendliche. Eine Selbstidentifikation als „pflegend“ findet, ähnlich wie bei erwachsenen Pflegenden, durch die Kinder und Jugendlichen selten statt. Dennoch stellt sich die Frage, ab wann ein Kind als pflegend gilt, was in der internationalen empirischen Sozialforschung kontrovers diskutiert wird. Nagl-Cupal et al. (2012) identifizieren Kinder als pflegend, indem neben einem krankheitsbezogenen Aspekt – eine Erkrankung liegt in der Familie vor, die von den Kindern und Jugendlichen benannt wird – ein tätigkeitsbezogener Wert erfüllt sein muss. Die Zuordnung als pflegendes Kind bzw. Jugendlicher ergibt sich aus dem Ausmaß der Unterstützung von „signifikanten“ Tätigkeiten, z. B. beim Duschen oder Anziehen oder beim Toilettengang helfen und das Ausmaß „allgemeiner“ Hilfstätigkeiten in den Domänen Haushalt, generelle Pflege und emotionale Unterstützung. Kaiser (2017) adaptiert das Vorgehen von Nagl-Cupal et al. (2012) unter Verwendung einer deutschsprachigen Übersetzung des MACA-YC18 (Joseph, Becker & Becker, 2012) und legt dabei einen Cut-Off-Wert zur Identifizierung als pflegend fest, indem er das substanzielle Ausmaß an Pflegetätigkeiten definiert. Ähnlich ging ebenfalls die deutsche Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (2017), indem sie eine tätigkeitsorientierte Kriterienliste zur Bestimmung von Young Carers verwendete. In der aktuellen Prävalenzstudie aus der Schweiz (Leu, Frech, Wepf et al., 2019) wurden Young Carers in einem mehrstufigen Verfahren identifiziert. Sofern die Teilnehmenden anhand einer Ankerfrage angaben, jemanden zu unterstützen, wurden im Anschluss die Gründe erhoben und mittels eines vorgegebenen Schemas kategorisiert (Unterstützung aufgrund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung: ja oder nein). In einem nachfolgenden Schritt wurden die übernommen Tätigkeiten und deren Ausmaß erhoben (Joseph et al., 2012).

Deutlich wird, dass der Fokus in nationalen (wie auch internationalen) Studien auf den Pflegetätigkeiten liegt und es eben jene sind, die die Zielgruppe von anderen Kindern und Jugendlichen mit Erkrankungen im familialen Kontext unterscheiden. Wird von Young Carers als pflegenden Kindern und Jugendlichen gesprochen, liegt ein hohes Ausmaß an Pflegetätigkeiten vor oder es findet eine Selbstidentifizierung der Kinder, Jugendlichen oder ihrer Familien statt.

Diskussion

Für die Auseinandersetzung mit der Situation der Young Carers im deutschsprachigen Raum bedarf es einer verständlichen und nachvollziehbaren Bezeichnung. Pflegende Kinder und Jugendliche bzw. Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige sind dabei die am häufigsten verwendeten Begriffe im deutschsprachigen Raum, doch eine Vielzahl an weiteren Terminologien baut auch auf dem britischen Young-Carers-Konzept auf. Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die deutschsprachige Literatur dahingehend aufzuarbeiten, welche Begriffe für den im englischen Sprachraum verwendeten Begriff Young Carers verwendet werden. Dabei wurde deutlich, dass der Pflegebegriff im Deutschen unterschiedlich definiert wird. Die englischsprachige Terminologie Young Carers fasst die übernommene Pflege durch Kinder und Jugendliche in einem weiteren Verständnis und bezieht neben medizinisch-therapeutischen Aspekten auch Hilfe bei der Alltagsbewältigung und die zwischenmenschliche Beziehung mit ein. Der im Alltag vorherrschende Pflegebegriff wird häufig in einem engen Verständnis interpretiert und erschwert die Wahrnehmung der Aufgaben, die von Kindern und Jugendlichen übernommen werden. Wird dem Pflegebegriff ein breiteres Verständnis zugrunde gelegt, kann das originäre britische Konzept der Young Carers mit pflegende Kinder und Jugendliche oder Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige ins Deutsche übersetzt werden, so wie Dietz (1994) und Metzing und Schnepp (2007) es taten. Dieses englischsprachige Konzept schließt weitere Begriffsverwendungen der Zielgruppe im deutschsprachigen Raum, wie junge Pflegende, betreuende und unterstützende Kinder und Jugendliche, oder sorgende Kinder, mit ein.

Hier zeigt sich wiederum, dass die Begriffe „pflegend“ bzw. „Pflege“ im Zusammenhang mit der Tätigkeitsbeschreibung von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen zu kurz greifen, wenn ausschließlich deren sozialrechtliche Einbettung betrachtet wird. Vor dem Hintergrund der Tätigkeiten und dem, was „Pflege“ bedeutet, erscheint demnach auch Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige ein tragfähiger Begriff. Dies vor allem mit Blick auf deren Tätigkeiten und die Motive, die Pflege zu übernehmen, die sich kaum von denjenigen erwachsener pflegender Angehöriger unterscheiden. Diese reichen auch bei Erwachsenen von einer normativen Selbstverständlichkeit, Liebe und Zuneigung für die kranke bzw. pflegebedürftige Person, Pflichtgefühl bis hin zu mangelnder Entscheidungs- und Wahlfreiheit (Geister, 2005).

Allerdings – und hier greift das vorliegende Manuskript zu kurz – sind die Begriffe „Kinder“ bzw. „Jugendliche“ im Zusammenhang mit „Angehörigen“ kritisch zu betrachten. Betroffene Kinder und Jugendliche sehen sich häufig nicht als pflegend an, weil es für sie normal ist, jemandem in der Familie zu helfen. Selbst mit einem langen zeitlichen Abstand im Erwachsenenalter sehen sie sich nachträglich nicht als pflegende Angehörige (Nagl-Cupal et al., 2015). Dies verwundert nicht, ist doch „pflegende Angehörige sein“ eine der Erwachsenenpflege anhaftende, nicht-selbstverständliche Rolle, in die Betroffene häufig erst hineinwachsen müssen (Plank, Mazzoni & Cavada, 2012).

Des Weiteren können das enge Begriffsverständnis von Pflege im deutschsprachigen Raum sowie die verwendeten unterschiedlichen Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen zu einer erschwerten Selbstidentifikation führen. Diese Selbstidentifikation durch die betroffenen Familien wird noch zusätzlich durch eine fehlende Sensibilisierung der Professionen des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens verstärkt, da ihnen die Zielgruppe und die damit einhergehende Verantwortung nicht ausreichend bewusst sind. Deren professionelle Unterstützung scheint jedoch vor dem Hintergrund möglicher negativer Auswirkungen von hoher Bedeutung (Dearden & Becker, 2004; Kaiser & Schulze, 2014; Nagl-Cupal, Daniel, Koller & Mayer, 2014; Roos, Boer & Bot, 2016).

Die Wahrnehmung der Zielgruppe und Initiierung von Unterstützung von außen, aber auch die Selbstwahrnehmung, setzt ein gemeinsames Begriffsverständnis voraus, das im deutschsprachigen Raum noch nicht vorhanden ist. Ganz im Gegenteil, die deutschen Begriffe für Young Carers scheinen immer zahlreicher zu werden, wie die Literaturrecherche gezeigt hat (siehe Tabelle 3). Deshalb und aufgrund des zu kurz greifenden Pflegebegriffs spricht aus der Sicht der Autorinnen und Autoren viel dafür, zukünftig in der deutschsprachigen Literatur ebenfalls den englischen Begriff Young Carers zu verwenden. Dies scheint auch den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst eher zu entsprechen, als die Verwendung des Begriffs „Pflege“ und „pflegende Angehörige“, mit dem sie sich oftmals schwertun.

Neben einer gemeinsamen Begrifflichkeit ist auch die inhaltliche Definition von hoher Relevanz. In Anlehnung an Becker (2000) wird eine Definition der Zielgruppe für den deutschsprachigen Raum vorgeschlagen, die den Begriff der Angehörigen im Sinne von Wepf et al. (2017) erweitert und die Auflistung der Erkrankungen durch die Suchtthematik und Beeinträchtigungen wie Altersgebrechlichkeit von betagten Nahestehenden im Vergleich zu Becker (2000) ergänzt. Zusätzlich werden die möglichen Tätigkeitsbereiche von Young Carers, angelehnt an die Kategorisierung von Metzing (2007) und Nagl-Cupal et al. (2012), integriert. Neben der Bedeutung für die Forschung ist die Definition im deutschsprachigen Raum für die Arbeit von Fachkräften in der Praxis relevant. Um der bislang häufig fehlenden Identifikation von Young Carers durch Fachkräfte entgegenzuwirken, ist eine Definition vonnöten, die die Vielfalt der möglichen Situationen dieser Kinder und Jugendlichen aufzeigt und verdeutlicht.

Young Carers sind junge Menschen bis 18 Jahre, die eine Person – oder mehrere –, der sie sich verbunden und/oder verpflichtet fühlen, über längere Zeit und in wesentlichem Ausmaß in der Bewältigung des Alltags unterstützen, sofern diese aufgrund von psychischer und physischer Erkrankung, Beeinträchtigung, Sucht oder altersbedingter Veränderung auf Unterstützung angewiesen ist. Sie übernehmen dabei ein hohes Maß an Verantwortung, das normalerweise mit Erwachsenen in Verbindung gebracht wird.

Die übernommene Unterstützung lässt sich Tätigkeitsbereichen zuordnen, die als körperbezogene, emotionale sowie medizinisch/ therapeutische Unterstützung für die erkrankte Person; Haushaltstätigkeiten; Aufgaben außerhalb des Haushalts; Unterstützung/ Betreuung gesunder Familienangehöriger; Verantwortung für sich selbst kategorisiert werden können und finden in einzelnen, meist jedoch in mehreren dieser Bereiche statt.

Diese Unterstützung findet häufig im Verborgenen statt und wird oftmals vom persönlichen Umfeld, von Fachpersonen sowie von der Öffentlichkeit kaum beachtet.

An den dargestellten Grenzfällen der Begriffsanalyse ließ sich auch zeigen, was Young Carers nicht sind. Studien weisen allerdings darauf hin, dass es eine Vielzahl von Kindern gibt, die weit über dem Durchschnitt familiäre pflegerische Aufgaben übernehmen, auch wenn niemand in der Familie krank ist (Nagl-Cupal et al., 2014). Wie im vorliegenden Beitrag beschrieben, liegt die Unterscheidung zwischen Young Carers und Nicht-Young Carers im Vorliegen einer Krankheit oder Beeinträchtigung eines Familienmitglieds oder einer anderen nahestehenden Person begründet, ungeachtet der Tatsache, dass Caring, wie im englischen Sprachgebrauch verwendet, mehr ist als eine auf Krankheit und Pflegebedürftigkeit bezogene Fürsorgereaktion. Die im Grenzfall dargestellte alleinerziehende Mutter könnte entweder temporär krank werden, was das Kind – zumindest vorübergehend – per Definition zum Young Carer macht. Sie könnte aber auch ohne eine medizinische Diagnose dauerhaft schweren Belastungen, wie dem Druck, alleine die Familie durchbringen zu müssen, ausgesetzt sein. Das heißt aber auch, dass die gegenwärtige Definition von Young Carers stark im medizinischen Paradigma verhaftet ist und wir nur kraft einer gestellten Diagnose von Young Carers sprechen können. Soziale Belastungen als Ursache, die Verantwortung für jemanden anderen zu übernehmen, werden dabei gegenwärtig außer Acht gelassen. Dies wird künftig besonders wichtig sein vor dem Hintergrund der steigenden Anzahl von Einelternfamilien. Werden solche Familien zusätzlich mit einer Krankheit belastet, fehlt oftmals eine erwachsene Person, die Verantwortung übernehmen kann. Dieser Zustand begünstigt in der Folge die Übernahme von Tätigkeiten und Verantwortung durch die Kinder und Jugendlichen.

Auch wenn andere Kinder und Jugendliche Aufgaben im Haushalt übernehmen, so sind es diese Attribute, die Kinder und Jugendliche als pflegend charakterisieren. Becker spricht von der signifikanten Übernahme der Aufgaben (Becker, 2000). Jedoch gibt es keinen Grenzwert – sogenannten „Cut-Off-Wert“ –, der eine signifikante Übernahme von Tätigkeiten definiert (Smyth et al., 2011). Es existiert für den deutschsprachigen Raum keine einheitliche Methode, um festzustellen, ab welchem Ausmaß an Verantwortung und/oder übernommenen Tätigkeiten von einem Young Carer gesprochen werden kann. Es handelt sich demnach eher um ein Kontinuum von Aufgaben, das je nach Beeinträchtigungsgrad des betroffenen Familienmitglieds variieren kann. Sei dies in Bezug auf den zeitlichen Aufwand oder in Bezug auf das Ausmaß oder die Art der übernommenen Tätigkeiten. Dieser Aspekt sollte jedoch gerade im Zusammenhang mit möglichen negativen Auswirkungen der Pflegerolle genauer betrachtet werden, besonders dann, wenn übernommene Verantwortung nicht dem Entwicklungsstand des jungen Menschen entspricht. In der Schweiz sind vor diesem Hintergrund Forschungsaktivitäten zu verzeichnen, um Indikatoren zur signifikanten Übernahme von Unterstützungstätigkeiten durch pflegende Angehörige festzulegen.

Fazit

Die vorliegende Analyse hat sich mit dem Begriff pflegende Kinder und Jugendliche und den zugrundeliegenden Attributen auseinandergesetzt. Es wurde gezeigt, dass pflegende Kinder und Jugendliche keine ausreichende adäquate Übersetzung des britischen Young-Carer-Begriffs ist. Die Übertragung des originären Begriffes Young Carers ins Deutsche lässt sich vor dem Hintergrund des im Deutschen häufig eng gefassten Pflegeverständnisses im Gegensatz zum englischen Begriff „care“ rechtfertigen. Dieses erweiterte Pflegebegriffsverständnis ist unabdingbar, wenn Forschungsergebnisse international vergleichbar sein sollen. Die aufgestellte Definition umfasst das Wissen der internationalen Studien und lehnt sich an die Definition von Becker (2000) an. Besonders wird jedoch das hohe Maß an übernommener Unterstützung und die Verantwortung für das familiale System (Verwandte und nahestehende Personen) hervorgehoben. Der entwickelte Definitionsvorschlag für den deutschsprachigen Raum kann zu einer einheitlich und klar formulierten Begriffsbestimmung und somit zu einer Vergleichbarkeit von Daten beitragen. Die Definition bietet eine Diskussionsgrundlage und kann die Sensibilisierung der Betroffenen wie auch die der Öffentlichkeit unterstützen. Dadurch wird es möglich, einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs zu leisten sowie entsprechende gesetzliche Grundlagen und bedarfsorientierte Unterstützungsangebote für den deutschsprachigen Raum zu entwickeln.

Limitationen

Verschiedene Autorinnen und Autoren kritisieren das Analyseverfahren nach Walker und Avant, da kein Hinterfragen der Methode stattfindet (Beckwith, Dickinson & Kendall, 2008; Risjord, 2009). Der zentrale Kritikpunkt liegt dabei bei beiden Studien auf der Verwendung der Methode als Grundlage einer Theorieentwicklung. Die Konzeptanalyse wurde ursprünglich in der Philosophie angewendet und für den Gebrauch in den Pflegewissenschaften adaptiert. Diese Anpassungen erfolgten zuweilen unkritisch und ungerechtfertigt (Beckwith et al., 2008). Risjord (2009) bemängelt eine unreflektierte Verwendung des Analyseprozesses von Walker und Avant. Methodisch anzumerken ist, dass das Verfahren in seinen acht Schritten als analytischer Rahmen für den vorliegenden Artikel verwendet wurde. Das Ziel dabei war eine multiprofessionelle und trinationale Auseinandersetzung mit Begriffen zu Kindern und Jugendlichen, die pflegen und unterstützen, um eine theoretische Grundlage im deutschsprachigen Raum zu legen. Den Ergebnissen unserer Analyse liegen dabei immer etwas Vorläufiges zugrunde: Das Analyseverfahren beinhaltet trotz der systematischen Auseinandersetzung subjektive Auswahlprozesse, was zu Modifizierungen oder Erweiterung durch andere Durchführende der Methode führt. Zudem fördert die Wissenschaft stetig neue Erkenntnisse, wodurch Analysen ihre Aktualität verlieren können.

Dank

Die Autorengruppe möchte sich bei Anke Jähnke, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Careum Forschung, für ihr kritisches Gegenlesen des Beitrages bedanken.

Finanzierung

Betreffend die Finanzierung des Manuskriptes liegen keine Interessenkonflikte vor. Der Schweizerische Nationalfonds SNF unterstützt das Doktorat der Erstautorin im Rahmen des Projektes SNF Money Follows CH-UK, 10001AM_160355.

eISSN:
2296-990X
Sprachen:
Englisch, Deutsch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
Volume Open
Fachgebiete der Zeitschrift:
Medizin, Klinische Medizin, andere