Die ambulante Gesundheitsversorgung in der Schweiz zeichnet sich durch einen zunehmenden Mangel an Hausärzten/innen aus. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat diese Situation erkannt und sieht in der Förderung der Interprofessionalität einen möglichen Lösungsweg (BAG, 2017). Im entsprechenden Förderprogramm „Interprofessionalität im Gesundheitswesen“ heißt es: „Die medizinische Versorgung in der Schweiz steht vor großen Herausforderungen. Zum einen führen die demografische Alterung sowie die Zunahme an chronisch erkrankten Personen zu einem wachsenden Bedarf an medizinischen Leistungen. Zum anderen ist es bereits heute schwierig, ausreichend qualifiziertes (…) Personal im Gesundheitswesen zu rekrutieren. Diese Situation wird sich aus demografischen Gründen in den kommenden Jahren nicht ohne Weiteres entspannen. Interprofessionelle Zusammenarbeit stellt einen Ansatz dar, mit dem diesen Herausforderungen begegnet werden kann“ (ibid. S. 5).
Die interprofessionelle Zusammenarbeit kann durch den Einsatz von nicht-ärztlichem medizinischen Personal gestaltet werden, was in der direkten Patientenversorgung in vielen Ländern wie Großbritannien, USA, Kanada, Australien, Holland und Finnland bereits seit Jahrzehnten fest im Gesundheitssystem sowie in der Primärversorgung etabliert ist (Maier et al., 2017).
Es handelt sich bei dieser Berufsgruppe um diplomierte Pflegefachpersonen, welche durch ein Studium medizinische Kenntnisse vertiefen und spezifische Fähigkeiten für die Untersuchung und Behandlung von Patienten/-innen erwerben. Diese Advanced Practice Nurses (APN) und Clinical Nurses (CN) führen nach abgeschlossener Ausbildung medizinische Tätigkeiten in einem definierten Tätigkeitsfeld selbständig und unter ärztlichen Supervision durch. Sie arbeiten im Team/Tandem mit dem ärztlichen Dienst und weiteren Gesundheitsberufen zusammen. Sie bilden somit neben den klassischen Rollen in der Primärversorgung mit Ärzten/-innen auf der einen und medizinischen Praxisassistenten/-innen (MPA) auf der anderen Seite ein drittes Rollenbild. Ein einheitlicher Begriff konnte sich für dieses Rollenbild in der Schweiz bisher nicht durchsetzen. In den USA hat sich für diese Berufsgruppe die Sammelbezeichnung „Advanced Practice Nurse“ etabliert. Andere Begriffe werden dafür ebenfalls verwendet: Clinical Nurse, Nurse Practionier, Physician Assistant oder Physician Associtate.
In der Schweiz bestehen derzeit zwei Bildungsabschlüsse, um diese Funktionen ausführen zu können (vgl. Tabelle 1). Die Funktion APN setzt einen Master-Abschluss in Pflegewissenschaft an einer dafür akkreditierten Universität oder Hochschule voraus. Weiter besteht die Möglichkeit, als Weiterbildung ein CAS-Diplom zu erwerben als klinische Fachspezialistin/klinischer Fachspezialist (KFA), resp. Clinical Nurse.
Rollenbilder und Funktionen von APN und CN in der Schweiz, eigene Darstellung
alternative/ähnliche Funktionsbezeichnungen | Pflegeexpertin/Pflegeexperte APN Nurse Practitioner Clinical Nurse Specialist | Klinische Fachspezialistin/Klinischer Fachspezialist (KFA) Physician Assistant/Physician Associate |
Ausbildung | für die Funktionsbezeichnung APN benötigt eine diplomierte Pflegefachperson FH einen Abschluss Master of Science in Nursing mit klinischer Vertiefung | für die Funktionsbezeichnung KFA benötigt eine diplomierte Pflegefachperson HF/FH einen Abschluss CAS Klinische Fachspezialisten |
Hauptunterschiede Aufgabengebiete | mehr Eigenverantwortung mehr Entscheidungskompetenz Betreuung von komplexeren und multimorbiden Patienten Leadership und Ausbildung Forschung | unkomplizierte Behandlungsfälle standardisierte Untersuchungen (ABI-Messung/Schellong-Test usw.) vermehrt Instruktionen (auch an MPA) vermehrt Tätigkeit unter ärztlicher Supervision |
Der Einsatz von APN und CN wird auch in der Schweiz in der stationären Versorgung bereits erprobt, deren Regulierung ist jedoch ausstehend wie die Beiträge an den APN-Symposien der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW zeigen (ZHAW, 2020). Für die ambulante Versorgung wurden ebenfalls Einsatzgebiete diskutiert und erprobt, zum Beispiel bei der Versorgung chronisch kranker Patienten/-innen und bei Hausbesuchen (vgl. Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren, 2019). Diese Funktionen sind in der hausärztlichen Grundversorgung jedoch noch nicht etabliert.
In der Gruppenpraxis Medbase Winterthur Neuwiesen kommen seit rund zwei Jahren in der ambulanten Versorgung neben Allgemeinmedizinern und MPA auch APN und CN zum Einsatz. Zwei CN und eine APN (
Das KMT ist ein Teil der hausärztlichen Grundversorgung der Gruppenpraxis Medbase Winterthur Neuwiesen, in der insgesamt 13 Allgemeinmediziner/-innen arbeiten. Vom KMT arbeiten zwei CN und eine
Vor der Konsultation erhält der Patient/die Patientin als Praxisstandard bei Infekt-Beschwerden immer eine kapilläre Blutabnahme mit Bestimmung der Laborparameter CRP und kleinem Blutbild.
Für die Evaluation wurden die elektronischen Akten von Patienten/-innen mit unkomplizierten Infekten der oberen Atemwege aus dem Zeitraum Januar bis Februar 2020 vor dem Auftreten der Corona-Pandemie ausgewählt. In den Wintermonaten ist die Inzidenz von Atemwegsinfekten bekanntlich hoch. Verglichen wurden je 30 Behandlungen, die von insgesamt neun Allgemeinmediziner/-innen (Ärzte-Gruppe), resp. dem KMT durchgeführt wurden (KMT-Gruppe).
Die Behandlungsqualität wurde daran gemessen, ob diese den aktuellen Empfehlungen zur Antibiotikaverschreibung bei unkomplizierten Atemwegsinfekten entsprach: Symptombekämpfung und keine Antibiotikaverschreibung.
Der Outcome wurde anhand des Verlaufs der Symptomatik gemessen. Da Patienten/-innen sich bei fehlender Besserung üblicherweise erneut in der Praxis vorstellen oder die Praxis einen Brief über eine Behandlung in einer Notfallambulanz erhält, wurde als positives Outcome gewertet, wenn die Patienten/-innen bei einer geplanten Nachkontrolle mit deutlicher Besserung vorstellig wurden oder wegen dieses Erkrankungsfalles weder in unserer Praxis noch in einer Notfallpraxis erneut behandelt werden mussten.
Die Behandlungsqualität und der Outcome wurden mittels Vierfeldertafel und dem Chi-Quadrat-Test mit Kontinuitätskorrektur verglichen. Die Analyse erfolgte mit dem Statistikprogramm SPSS Version 26 von IBM.
Die Charakteristika der Patienten/-innen zeigt Tabelle 2:
Charakteristik der Patienten/-innen.
Altersdurchschnitt | 39 J | 31 J |
Geschlecht | ||
- männlich | 43 % (N=13) | 63 % (N=19) |
-weiblich | 57 % (N=17) | 37 % (N=11) |
Relevante Vorerkrankung | 37 % (N=11) | 27 % (N=8) |
Temperaturdurchschnitt in °C | 37 | 37 |
BD/P gemessen in | 20 % (N=6) | 97 % (N=29) |
CRP-Durchschnitt in mg/L | 22 | 18 |
Neutrophile-Durchschnitt in mm3/L | 6 | 5 |
Leukozyten-Durchschnitte in 103/uL | 9 | 7 |
Unspezifische Infekte der Atemwege | 64 % (N=19) | 47 % (N=14) |
Pharyngitis | 3 % (N=1) | 20 % (N=6) |
Sinusitis in | 3 % (N=1) | 10 % (N=3) |
Bronchitis in | 10 % (N=3) | 10 % (N=3) |
Angina tonsillaris in | 10 % (N=3) | 10 % (N=3) |
Otitis media in % | 10 % (N=3) | 3 % (N=1) |
Das Durchschnittsalter in der KMT-Gruppe lag bei 31 Jahren im Vergleich zu 39 Jahren in der Ärzte-Gruppe. Die Geschlechtsverteilung zeigte einen größeren Anteil von Männern (63 %) in der KMT-Gruppe, wohingegen in der Ärzte-Gruppe mehr Frauen (57 %) behandelt wurden. In der KMT-Gruppe wiesen 27 % eine relevante Vorerkrankung (Herz-Kreislauf-Erkrankung, Diabetes, Lungenerkrankung, aktives Tumorleiden, Immunsuppression) auf gegenüber 37 % in der Ärzte-Gruppe.
In der Laboranalyse lag der durchschnittliche CRPWert mit 18,3 mg/l in der KMT-Gruppe etwas niedriger als in der Ärzte-Gruppe von 22,3 mg/l, die Leukozyten befanden sich im Schnitt bei 8,6 × 109/l (Neutrophile 5,8 × 109/l) bei der Ärzte-Gruppe im Vergleich zu 7,1 × 109/l (Neutrophile 4,7 × 109/l) in der KMT-Gruppe. Die Vitalwerte (Blutdruck, Herzfrequenz, Körpertemperatur) wurden in der KMT-Gruppe bei 29 Patienten/-innen (97 %) und damit deutlich häufiger bestimmt. Bei den Ärzten wurde bei 9 Patienten die Temperatur und bei 6 Patienten Blutdruck und Herzfrequenz gemessen.
Die mit Abstand häufigste dokumentierte Diagnose war die eines unspezifischen Infektes der Atemwege mit den typischen Symptomen Husten, Schnupfen, Halsschmerzen (64 % bei den Ärzten vs. 47 % beim KMT). Bei den spezifischen Diagnosen wurde bei der KMT-Gruppe eine Pharyngitis am häufigsten gestellt (20 % vs. 3 % bei den Ärzten). In beiden Gruppen wurde bei 10 % der Patienten eine Angina tonsillaris und eine Bronchitis diagnostiziert, eine Sinusitis bei 10 % in der KMT-Gruppe und 3 % der Ärzte-Gruppe, eine Otitis bei 10 % in der Ärzte-Gruppe und 3 % in der KMT-Gruppe.
Das KMT setzte signifikant häufiger NSAR ein als die Ärzte/-innen: 63 % versus 20 %; Chi = 9,9; p= 0,002.
Das KMT verordnete signifikant weniger Antibiotika als die Ärzte/-innen: 10 % versus 43 %; Chi= 6,9; p= 0,009. In der KMT-Gruppe war der Outcome bei 97 % der Patienten/-innen positiv, in der Ärztegruppe bei 83 %. Der Unterschied ist nicht signifikant: Chi= 1,7; p= 0,197. In der KMT-Gruppe wurde für neun Patienten/-innen eine elektive Nachkontrolle geplant. In acht Fällen war diese positiv, in einem Fall zeigte sich keine Besserung der Beschwerden. In der Ärzte-Gruppe erfolgte bei sieben Patienten/-innen eine geplante Nachkontrolle, alle Patienten/-innen wiesen eine Regredienz der Beschwerden auf (positiver Outcome). Fünf Patienten stellten sich wegen ausbleibender Besserung innert sieben Tagen erneut ungeplant vor. Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse des Vergleichs von Behandlungsqualität und Outcome der Behandlung.
In der durch das KMT behandelten Patienten/-innengruppe war die Antibiotikaverschreibung signifikant geringer, ohne dass sich dadurch das Outcome verschlechtert hat. Die leicht erhöhten Entzündungswerte in der Ärzte-Gruppe können diesen Unterschied nicht erklären, auch in Betracht der häufigen Diagnose eines meist unspezifischen Infektes der Atemwege. Das Ergebnis bestätigt vielmehr die Beobachtung, dass Ärzte/-innen bei Infekten der oberen Atemwege entgegen aktueller Guidelines noch zu häufig Antibiotika einsetzen (Catho & Huttner, 2018, S. 957), was zu einer Zunahme von Resistenzen in der Schweiz führt (Gasser et al., 2018, S. 943). Antibiotika haben jedoch bei Infekten der oberen Atemwege häufig mehr Nachteile als Vorteile und sollten daher nur unter strenger Indikationsstellung verordnet werden (Catho & Huttner, 2018, S. 957). Für die Indikationsstellung gibt es mittlerweile für die Praxis sehr gut anwendbare Guidelines der Schweizerischen Fachgesellschaft für Infektiologie (SGINF, 2020). In der Top-5-Liste der Kampagne Smarter Medicine rät die Gesellschaft zudem, Antibiotika bei Infektionen der oberen Atemwege nur zurückhaltend einzusetzen (smartermedicine, 2020). Im KMT-Handbuch sind diese Guidelines integriert und auf die Umsetzung wird durch die ärztliche Supervision geachtet.
Der meist positive Outcome zeigt, dass bei gut standardisierten Behandlungsfällen der Einsatz von APN und CN in der hausärztlichen Praxis möglich ist und eventuell sogar die Behandlungsqualität verbessert. Das Ergebnis deckt sich mit internationalen Studien, bei denen bereits gezeigt wurde, dass der Einsatz dieser Berufsgruppe in der Grundversorgung zu einer Verbesserung der Qualität in der medizinischen Behandlung führen kann (Laurant et al., 2018, S. 2).
Die Interprofessionalität wird durch die Integration dieser Rolle gefördert, da ein neues Bindeglied zwischen Ärzten und MPAs entsteht. Nach den Erfahrungen der Gruppenpraxis Medbase Winterthur Neuwiesen wird durch den häufigen fachlichen Austausch auch das Teambuilding einer Praxisgemeinschaft gefördert. Grundlage für das Funktionieren dieser Zusammenarbeit sind eine ständige und gute Kommunikation sowie gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen. Diese lassen sich empirisch jedoch nur schwer erfassen und können lediglich als Erfahrungen berichtet werden. Die Zufriedenheit der Patienten/-innen wurde bisher nicht gezielt erfasst; diese könnte mittels einer Fragebogenstudie erhoben werden. Negative Rückmeldungen/Reklamationen nach einer Behandlung durch das KMT seitens der Patienten/-innen gab es bisher keine. Dagegen gab es häufig positive Rückmeldungen. Wichtig ist beim Einsatz des KMT, die Transparenz bezüglich der nicht-ärztlichen Funktion von APN und CN gegenüber den Patientinnen und Patienten. Durch die längere Konsultationszeit von 30 Minuten beim KMT im Vergleich zu 15 Minuten bei den Ärzten/-innen bestand hier eher die Möglichkeit, individuell auf die Beschwerden einzugehen und zu erklären, warum zum Beispiel kein Antibiotikum zum Einsatz kam. Dies kann dazu beitragen, die Compliance und möglicherweise auch das Outcome bei diesen Patientinnen und Patienten zu verbessern. Die Fokussierung auf bestimmte Krankheitsbilder führte insgesamt zu einer guten Strukturierung der Konsultation, sodass regelmäßig die Vitalwerte der Patientinnen und Patienten erfasst wurden. Durch die gemessenen Blutdruckwerte wurde nicht nur der Allgemeinzustand weiter objektiviert, sondern auch die Möglichkeit gegeben, nicht erkannte Hypertonien entdecken zu können. Grundsätzlich ist es wichtig zu betonen, dass für die Umsetzung geeignetes Personal und eine entsprechende Praxisorganisation notwendig sind.
Diese Studie basiert auf Daten von 60 Patienten/-innen mit Symptomatik einer einfachen Atemweginfektion. Für ein umfassenderes Bild und allgemeingültige Aussagen müsste die Behandlung von mehr Patienten/-innen mit einem breiteren Spektrum an Symptomen untersucht werden. Die interprofessionelle Zusammenarbeit lässt sich durch die Teamzusammensetzung objektivieren, die Interaktionen und die Auswirkungen auf das Team können bisher nur als subjektive Erfahrung berichtet werden. Hierzu bedarf es objektivierender Untersuchungsmethoden.
Die retrospektive Analyse der Patientendaten bestätigt Erfahrungen in der Gruppenpraxis Medbase Winterthur Neuwiesen, dass sich die Rolle der APN/CN gut für die Behandlung von definierten Behandlungsfällen im hausärztlichen Bereich eignet und untermauert internationale Studien zu diesem Thema (Laurant et al., 2018, S. 2). Die Integration dieser Berufsgruppe kann insgesamt zu einem Gewinn im hausärztlichen Setting führen. Als häufiges Argument für dessen Einsatz findet sich die zunehmende Knappheit ärztlicher und ökonomischer Ressourcen (Künzi & Detzel, 2007, S. 60). Neben der Entlastung der Ärzte/-innen und einer Kostensenkung ergaben sich noch weitere Vorteile. Zu den Benefits zählt eine Stärkung der Interprofessionalität, ein Wissenstransfer von APN/CN zu den MPA und als Folge eine Verbesserung der Behandlungsqualität und des Teamgeists. Eine interprofessionelle Zusammenarbeit im ambulanten Gesundheitssektor durch die Integration von APN/CN zahlt sich somit für Patientinnen und Patienten und die beteiligten Fachkräfte aus. Die Politik ist gefragt, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen.
Diese Studie wurde im Rahmen der internen Qualitätssicherung der Gruppenpraxis Medbase Winterthur Neuwiesen durchgeführt. Gemäß Richtlinien der Kantonalen Ethikkommission Zürich (KEK) ist dafür keine Begutachtung/Genehmigung erforderlich (
Die Autoren/-innen arbeiten alle in der Medbase-Gruppenpraxis Neuwiesen Winterthur. Die Studie wurde im Rahmen der internen Qualitätssicherung mit Mitteln der Gruppenpraxis durchgeführt. Es bestehen keine Interessenkonflikte.