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Blind Flight into the eHealth World? Deficits in the education of health professionals hamper process of professionalization. Contribution to the HoGe conference 2018 „Digital learning and teaching“ / Blindflug in die eHealth-Welt? Bildungsdefizite machen Professionalisierungsbemühungen der Gesundheitsberufe zunichte. Beitrag zur HoGe–Tagung 2018 „Digitales Lernen und Lehren“

   | 25 mag 2019
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Einleitung

In den letzten Jahren sind in der Bildung für Gesundheitsfachpersonen enorme Anstrengungen unternommen worden, um im Interesse des Patientenwohls und der Versorgungsqualität den hoch gesteckten Standards gerecht zu werden. Die Bildungskonzepte basieren dabei auf Rollenmodellen aus der Vergangenheit, transportieren und reproduzieren oft tradierte Vorstellungen über die gute Berufsausübung und zielen auf gefestigte Berufsidentitäten. Weil Megatrends wie Multimorbidität, Personalmangel, Forderungen nach Outcome-Belegen, die veränderten Erwartungen der Millenials und die Digitalisierung langsam, aber mächtig einwirken, verändern sich die Verhältnisse und die Rahmenbedingungen grundlegend. Die Grundsatzfrage, ob die Ausbildungen diesen veränderten Bedingungen gerecht werden, wird allerdings nicht gestellt. Ein Blick auf Strategiedokumente zeigt, dass zwar Formen und Instrumente, nicht aber Inhalte angepasst werden – obschon die notwendigen Änderungen bereits vor 20 Jahren von prominenter Seite skizziert wurden.

Die Defizite werden vor allem beim digitalen Wandel sichtbar, der Hand in Hand mit der Industrialisierung des Gesundheitswesens einhergeht. Die Schere zwischen steigenden Bedarfen und dem Rückgang verfügbarer Arbeitskräfte wird auch in Europa den Beizug von elektromechanischen Assistenten in Form menschenförmiger Roboter erfordern. Wer heute in einen Gesundheitsberuf einsteigt, wird deshalb höchstwahrscheinlich androide Assistenten als Kollegen haben. Es ist nicht zu erwarten, dass sich konventionell-konservative Vorstellungen über die gute Berufsausübung als exklusive Beziehungsarbeit zwischen Menschen wird halten können. Die Versorgungspraxis dürfte damit einen schmerzhaften Bruch mit einem Übergang von evidence-based zu algorithm-based erleben.

Die digitale Transformation wird aber auffallend einseitig diskutiert. Thematisiert werden Effizienz, Kostenreduktion und Sicherheit, versprochen wird mehr Zeit für Patienten. Völlig unterbelichtet bleibt, was das Algorithmisieren neben dem Ersetzen von Personen mit diesen macht. Zu fragen wäre beispielsweise, welche Effekte die künstliche Intelligenz auf die zwischenmenschliche Interaktion und das professionelle Handeln, auf Teilhabe, Selbstbestimmung, Patientenorientierung, therapeutische Gestaltungsmöglichkeiten und Adhärenz hat. Statt Skills im Umgang mit Tablets und Tools zu trainieren, müsste sich die Bildung im Gesundheitssektor fragen, wie Professionen und Professionals darauf vorbereitet werden können, dass Maschinen als (verlässlichere) Arbeitskollegen Entscheide fällen und Prozesse steuern. Der erste Teil dieses Beitrags thematisiert die digitale Transformation in unserer Gesellschaft, an der alle – freiwillig oder unfreiwillig – teilhaben.

Wie Gesundheitsfachleute diesen Wandel auf dem Hintergrund ihrer Berufsidentität erleben, skizziert der zweite Abschnitt. Der dritte Teil zeigt auf, dass die Auswirkungen der Megatrends auf das Gesundheitswesen schon vor 20 Jahren skizziert wurden: Sie prophezeien einen radikalen Wandel im Verhältnis von Patienten/-innen und Healthprofessionals und stellen deren Selbstverständnis und Stellenwert radikal infrage. Der vierte Teil vermutet kritisch, dass die Zeitressourcen, die dank der Digitalisierung gewonnen werden, kaum für die Zuwendung zu Patienten/-innen eingesetzt werden: ökonomischer Rationalität gehorchend dürften sie für weitere Effizienzsteigerungen und Wertschöpfung genutzt werden. Ein Blick in die Zukunft skizziert die Arbeitswelt 4.0 im Gesundheitswesen und fragt, wie sich das Verhältnis zwischen Menschen (und Healthprofessionals) mit dem Einsatz von humanoiden Robotern im Gesundheitswesen ändern wird – ohne eine Antwort darauf zu geben. Abschließend folgt eine Analyse von Bildungsempfehlungen aus Deutschland und der Schweiz sowie ein Fazit für eine zukunftsgerichtete Ausbildung von Healthprofessionals.

Transformation als Konstante

Die digitale Transformation existiert nicht nur als Diskurs – sie ist in vollem Gange. Egal, wie kritisch-distanziert wir sie betrachten, als Mitarbeitende und Bürger/-innen sowie als Nutzer/-innen und Konsumenten/-innen, wir sind Teil dieser Umwälzungen, ob wir dies wollen oder nicht. In den verschiedenen Lebens- und Geschäftsfeldern kommen laufend mehr ICT-gestützte Verfahren zum Einsatz – sei es, weil in einem Rationalisierungsschritt Teilprozesse an die Nutzer/-innen als Prosumer (Toffler 1980) ausgelagert werden oder weil unsere Ansprüche als Koproduzenten/-innen (Badura 1996) ernst genommen werden oder weil offensichtliche Vereinfachungen sowie notwendige Kostenreduktionen und Zeitgewinne resultieren (u. a. Kühn 1998). Mit den veränderten Alltagsroutinen geht auch ein kultureller Wandel einher, der eingespielte (analoge) Beziehungssysteme und Prozesse der formalen Strenge des digitalen Raums unterwirft.

Diese auf vielen Ebenen mächtig von außen einwirkende Transformation durch Digitalisierung bringt Gewissheiten ins Wanken, polt Denk- und Handlungsweisen um, schafft neue Fakten und Realitäten, neue Produkte und Dienstleistungen. Schumpeter (1912: 175) hat diesen Vorgang schon vor über hundert Jahren als für das wirtschaftliche Vorwärtskommen unumgängliche „schöpferische Zerstörung“ beschrieben: Sie ist notwendig, damit Innovation und technischer Fortschritt sich durchsetzen können – damit das Bessere das Bestehende ablösen kann.

Eine Transformation kommt selten allein: Die kumulative Wirkung der Megatrends

Der digitale Wandel ist einer der Megatrends, die als langfristig wirkende, tiefgreifende und globale Veränderungsprozesse den Wandel vorantreiben und Werte und Wahrnehmung, Denken und Handeln, Kultur und Konsum verändern (Horx 2010). In patientenbezogenen Funktionen des Gesundheitswesens (Diagnostik, Krankenbehandlung, Therapien, Rehabilitation, Palliation) treten dabei kaum disruptive Brüche auf. Charakteristisch sind nicht singuläre Innovationssprünge, sondern vielmehr ein Zusammenwirken von Einflussfaktoren und Treibern, die im Verbund wirken. Sie lassen sich in fünf komplexe Bündel fassen:

Steigende Komplexität verändert Versorgungbedarfe In einer Gesellschaft des langen Lebens und der ungesunden Lebensstile werden chronische Krankheitsverläufe und Multimorbidität zum Normalfall. Wenn Heilung nicht mehr möglich ist, reicht es nicht mehr, nur Krankheiten zu behandeln. Die systemischen Ursachen erfordern systemische Antworten, über die Professions- und Systemgrenzen hinweg, interprofessionell koordiniert an den kritischen Schnittstellen, ko-produktiv mit kompetenten Patienten/-innen und deren Selbstbestimmungsrecht respektierend – und wirksam, wirtschaftlich, zweckmäßig sowie mit Augenmaß für das Notwendige und die Lebensqualität. Ansätze dazu zeigen sich z. B. in normativen Initiativen im Kontext der Choosing-Wisely-Bewegung (http://www.choosingwisely.org), in Deutschland getragen von der Bertelsmann-Stiftung (https://www.bertelsmannstiftung.de/de/unsere-projekte/patient-mit-wirkung/projektthemen/choosing-wisely/), in der Schweiz getragen vom breit abgestützten Trägerverein Smarter Medicine (https://www.smartermedicine.ch/de/home.html), in Österreich vorangetrieben durch das Projekt «Gemeinsam gut entscheiden» (https://www.gemeinsamgut-entscheiden.at) von Cochrane Österreich und der Medizinischen Universität Graz. Für den Bildungsbereich siehe z. B. Sottas et al. (2013).

Strukturelle Personalknappheit stärkt die Gesundheitswirtschaft

Die Kombination einer anrollenden Pensionierungswelle der Baby-Boomer-Generation und die sinkende Zahl von Schulabgängern wird inzwischen in den meisten Ländern als systemrelevante Bedrohung für das personalhungrige Gesundheitssystem eingestuft. Überlagert werden die beiden demografischen Faktoren, die zur Schrumpfung der Workforce am oberen und unteren Ende der Alterspyramide führen, durch hohe Aussteigerquoten: in der Schweiz verlassen 32 % der ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte sowie 46 % der ausgebildeten Pflegefachpersonen den Beruf (Merçay et al. 2016). Das Unvermögen der Professionen, sich zu reproduzieren, zwingt die Gesundheitswirtschaft, Mittel und Wege zur Effizienzsteigerung zu entwickeln – weil die Versorgungssysteme fortbestehen müssen, verlagert sich die Gestaltungs- und Steuerungsmacht zunehmend in die Hände des Managements.

Outcome-Belege erzwingen Ratings und permanenten Wettbewerb

Während in den Gesundheitsberufen oft der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung hervorgehoben und in der Ausbildung als vordringliches Ziel der beruflichen Sozialisation gepflegt wird, verschiebt sich der gesundheitspolitische Fokus auf die Ergebnisqualität im Allgemeinen. Um Wirkung und Nutzen beurteilen zu können, wird im Speziellen datengestützte Transparenz über Interventionen, Kosteneffektivität, Prozesseffizienz, Selektionsbiases, Behandlungsergebnisse, Nachbehandlungen und Nebeneffekte, Patientenzufriedenheit u. a. m. eingefordert. Weil diese mit Benchmarks abgeglichen werden können, geraten Gesundheitsfachpersonen in eine Arena, in der sie sich in permanentem Wettbewerb befinden und gar keine andere Wahl mehr haben, als die Verbesserung ihrer Outcomes ständig zu dokumentieren, um ihre Performanz „beweisen“ zu können (Porter & Lee 2013).

Die Kinder der Jahrtausendwende wollen keine old school

Die oft mit dem Sammelbegriff «Millenials» zusammengefassten Kinder der Jahrgänge zwischen 1985 und 2005, die nun auf den Arbeitsmarkt kommen oder Ausbildungen beginnen, haben hohe Erwartungen an die Bildungsangebote und die Arbeitgeber. Als digital natives sie sind mit e-learning vertraut und lieben forschendes Lernen, wollen Neues selber entdecken, Fakten und Meinungen vergleichen (»youtube hat besseres Material als der Teacher – ich schick Dir die Links!«) und organisieren sich ad hoc in Whatsapp-Gruppen, um bessere Lösungen zu entwickeln. Sie können hart arbeiten, aber es muss zu klaren Benefits führen und vereinbar sein mit dem sozialen Leben. Zudem wollen sie alles online machen, wollen Kontrolle über ihre Daten und konsultieren Dr. Google und WebDocs mit guten Patientenbewertungen. Und sie wissen, dass sie sich in der Mangelsituation den attraktivsten Arbeitgeber aussuchen können – entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Inhalte und das Management, die Prozessorganisation und das Arbeitsklima.

Digitalisierung bringt Deprofessionalisierung

Im Spannungsfeld zwischen Personalmangel, Geldverknappung, Kostenkontrolle, Transparenz, Convenience, Partizipationsansprüchen, Patientensicherheit und Unternehmenserfolg versprechen Digitalisierungsprozesse Lösungen für symptomatische Probleme des Gesundheitswesens. Wenn rund 70 % der Kosten Personalaufwände sind, liegt der Griff zu Substitutionslösungen nahe – im Streben nach Effizienz folgen Cure und Care immer mehr der Logik industrieller Produktionsprozesse, bei der auch menschenförmige Roboter eine Option sind. Dabei wird der Graben zwischen professioneller Autonomie und systeminhärenter Fremdbestimmung zwangsläufig tiefer. Gesundheitsfachpersonen erleben diesen schleichenden Wandel als Prekarisierung – sie werden entmündigt, sind ersetzbar und das professionelle Handeln wird zunehmend durch Algorithmen geführt und kontrolliert.

Es ist diese kumulative Gemengelage, welche die große disruptive Transformation erst noch auslösen wird: Wenn die komplexe Versorgungsrealität auf rechnergestützten Support angewiesen ist, allenthalben das fehlende Personal substituiert werden muss, datenbasierte Outcome-Belege den permanenten Wettbewerb befeuern und Reputation sichern, die neue Generation von Studierenden und Arbeitnehmenden als digital natives hergebrachte Abläufe und Muster hinterfragen, die industrialisierte Routineversorgung effizient etabliert und nur noch hochspezialisiertes Know-how für bestimmte Funktionen benötigt werden, werden die in Zeitlupe ablaufenden Veränderungen Verhältnisse produziert haben, die fundamental anders sind als alles Bekannte. Dass darin Bildung, Beruf und Professionalität andere Bedeutungen erhalten werden, ist absehbar.

Wie Gesundheitsfachpersonen Megatrends erleben

Viele Fachpersonen im Gesundheitswesen erleben den digitalen Wandel mehr oder weniger passiv als etwas Externes, ja als Gefahr für die Qualität therapeutischer Beziehungen und einer guten Versorgungsqualität: Er wird anderswo angefacht, durch Nicht-Gesundheitsprofessionelle vorangetrieben, und es haftet ihm ein Beigeschmack von Einmischung und Bevormundung oder Rationierung und Renditestreben an. Konkret wahrnehmbar ist er auf technischer Ebene und im Prozessmanagement, wenn neue Programme und Applikationen (oder auch die Aussicht auf raschere Verfügbarkeit von Daten) als Wellen von neuen Vorgaben z. B. zur Ablaufgestaltung, Dokumentation, Qualitätssicherung oder Abrechnung über das wohl geordnete Arbeitsfeld hereinbrechen, eingespielte Konzepte neu ordnen und die Aufmerksamkeit von der Kernaufgabe weglenken.

Befürchtet oder erlebt wird meist auch die Verdichtung der Zeit bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung, also Straffung der Ressourcen. Dabei ist es gewiss nicht so, dass alles schlecht wäre (u. a. Bittner 2018), aber das Unbehagen steigt mit der Kadenz und Intensität der Wogen. Stutzig werden Gesundheitsfachpersonen auch ob der Euphorie über die propagierten Vorteile (Topol 2013, Bundesrat 2017, Britnell et al. 2016). Zudem wächst das Gefühl einer zunehmenden Nötigung: Unumstößlich und alternativlos muss man als Therapeut/-in kostbare Zeit mit Hilfsarbeiten für das Management vergeuden statt diese der Patientenbetreuung und der Ergebnisqualität widmen zu können (Evans 2018).

Die Ohnmachtsgefühle werden durch erlebte, vermutete oder erwartete Verschiebungen der Definitions- und Entscheidungsmacht befeuert: Das Wissen und Können der Gesundheitsberufe wird schleichend der kalten Rationalität der Technokraten und der Diktatur der Gesundheitswirtschaft untergeordnet (Bräutigam et al. 2017; Boehme-Neßler 2018).

Aus Bildungssicht könnte eine Grundsatzfrage gestellt werden: Braucht es dann noch mehrjährige Berufsausbildungen und Professionen mit abgegrenzten Berufsbildern? Die aktuellen Anstrengungen zum evidenzgestützten Arbeiten wirken in dieser Dynamik wie gutes Training für den nächsten Level.

Die Entwicklung war schon bekannt, als die heutigen Lehrpläne entstanden

Schon vor 20 Jahren wurden Perspektiven skizziert, welche die kumulative Wirkung der Megatrends aufzeigen: Kühn (1998) aus ökonomisch-politischer Sicht; Miettinen (2001) aus epidemiologisch-medizinischer Sicht und Khosla (2012) aus informatiktechnischer Sicht. Im Beitrag „Industrialisierung der Medizin?“ zeichnet Kühn (1998, 41ff) nach, wie in den USA in den 1990er-Jahren nach und nach ein Übergang vom humanistisch-gemeinwirtschaftlichen Modell zu marktmächtigen For-Profit-Unternehmen erfolgte. Die für den Geschäftserfolg notwendigen Überschüsse hingen primär von der Fähigkeit ab, einen hohen Standardisierungsgrad zu erreichen. Ähnlich wie bei McDonalds im Konsumgüterbereich wurden Abläufe, Produkte und Dienstleistungen, aber auch Einkauf, Kalkulation und Marketing standardisiert und in der Fläche ausgerollt. Dabei erfolgte und erfolgt bis heute die Steuerung durch ein Management, das außerhalb der Arzt-Patient-Beziehung operiert. Weil dieses zur Planbarkeit, Kontrolle, Investitionssicherung und Zielerreichung ein ökonomisch-rationales Herrschaftssystem aufbauen muss, kann es mittels verbindlichen Prozessvorgaben, Ressourcenzuteilung, Materialbereitstellung, Entscheidungsregeln, Behandlungsrichtlinien oder kosteneffektiven Interventionsoptionen die therapeutische Beziehung übersteuern, also über gesundheitsbezogene Sachverhalte entscheiden, die nicht unmittelbar in seinem fachlichen Kompetenzbereich liegen. Mit zeitlicher Verzögerung läuft im deutschen Sprachraum eine ähnliche Machtverschiebung, in welcher die Gesundheitswirtschaft die im professionellen Selbstverständnis der Gesundheitsfachpersonen tief verankerte Autonomie und Selbststeuerung überspielt.

Anders als die Ökonomen, welche die Treiber des Wandels in exogenen Kräfte sehen, erkennt Miettinen (2001) endogene Schwachstellen in der Essenz dessen, was den Kern der Professionen ausmacht. In seinen Essays

Neben mehreren Fachbüchern zur Epidemiologie, die große Beachtung gefunden haben, hat Miettinen wissenschaftsphilosophische Beiträge geschrieben. Herausragend ist dabei die Serie von acht Essays, die er 2001 und 2002 im Journal der Canadian Medical Association publiziert hat. Hier wird auf den ersten Beitrag im CMAJ Bezug genommen: „Can practice be science?“.

thematisiert der Arzt, Epidemiologe und Biostatistiker immer wieder, dass die Prinzipien und Gewissheiten des clinical reasonings auf tönernen Füßen stehen. Er argumentiert, dass Praktiker/-innen und Ausbildner/-innen durch den axiomatischen Grundsatz, dass Naturwissenschaften eine angemessene theoretische Grundlage für die medizinische Praxis sind, in die Irre geführt werden. Die Ursache verortet er in der äußerst erfolgreichen (standes-)politischen Arbeit des Medizinpädagogen Abraham Flexner (1910), der schon vor über hundert Jahren mit Nachdruck postulierte, dass Forschung und Praxis „one in spirit, method and object“ seien. Dieses Konstrukt sei immer noch handlungsleitend und diene den Vertretern/-innen der Evidence Based Medicine als Kernargument, dass Praxis dann wissenschaftlich sei, wenn der/die Praktiker/-in Zusammenhänge mit „knowledge, logic and prior experience“ „erklären“ könne (Sackett et al. 1991). Dadurch würden entscheidende Kontextfaktoren, wie die gesellschaftliche Position der Fachpersonen und ihre Macht, medizinische Diskurse und die Mechanismen zur Verbreitung von Lehrmeinungen, unterschiedliche Konzepte über Krankheit, Leiden und die Körper-Geist-Kluft, ethische Argumente, aber auch das Wissen, die Erfahrungen und Perspektiven der Patienten/-innen, nicht als konstitutive Elemente der gnosis, der Wissensgenerierung, anerkannt. Würde science-basiert in abstrakten Ursache-Wirkungs-Modellen argumentiert, bliebe die Gesundheit eines Patienten/einer Patientin ein Buch mit sieben Siegeln, und der Gesundheitszustand ließe sich nicht erschließen oder dechiffrieren. Deshalb sei Medizin eben nicht „Science“, sondern „Art“. Schon vor der Jahrtausendwende zog er daraus radikale Schlussfolgerungen, die er später auch in einem Seminar in Zürich

Die NZZ bezeichnete ihn wegen seinen pointierten Aussagen als „Schreck der Mediziner“. In einem anschaulichen Vergleich erklärte er, dass Roger Federer ja auch nicht zuerst mit einem Sportstudium begonnen habe, um sich dann den Ballspielen zu widmen und sich danach für Einzelsport zu entscheiden, um zuletzt mit Tennis zu beginnen. Die lange Ausbildungszeit der Ärzte diene heute vor allem dazu, hohe Löhne zu rechtfertigen, was dann wegen der kurzen produktiven Lebensjahre die Gesundheitskosten in die Höhe treibe (https://www.nzz.ch/article925WV-1.295720)

mit Verve vertrat:

Das dominierende, streng logisch formalisierte medizinische Wissen lasse sich regelhaft in Algorithmen fassen, weshalb auch Computer Diagnose und Behandlung übernehmen könnten.

Dank des Internets seien die Wissensbestände und Methoden überall und jederzeit verfügbar und machten Zeitschriften, Bücher und Bibliotheken überflüssig.

Für lange Medizin-Studiengänge gebe es keine wissenschaftlichen Gründe mehr, angesagt seien vielmehr kurze Bildungsangebote für eine rasche funktionale Spezialisierung.

Die technischen Möglichkeiten und Konsequenzen hat der IT-Unternehmer Vinod Khosla

Koshla ist Mitgründer von Sun Microsystems. Das 1982 im Silicon Valley gegründete Unternehmen entwickelte bahnbrechende Lösungen im Hard- und Softwarebereich, die den Auf- und Ausbau der ITInfrastrukturen und die Nutzung des Internets erst ermöglicht haben. Viele Technologien und Anwendungen sind auch heute noch von zentraler Bedeutung (u. a. Unix, Java, FNS, SQL, OpenOffice – der damals revolutionäre Browser Netscape fiel seinem Erfolg zum Opfer, weil der offene Quellcode kopiert wurde). Tief überzeugt von der demokratisierenden Wirkung der Informationstechnologien und den Vorteilen ko-kreativer Prozesse zur nutzergerechten Weiterentwicklung hat Sun Microsystems Quellcode und Architektur offengelegt, im Gegensatz beispielsweise zu Microsoft. Das Unternehmen wurde 2010 von Oracle übernommen und Koshla investierte seine Anteile u. a. auch in IT-Anwendungen für den Gesundheitsbereich.

auch schon vor der Jahrtausendwende skizziert. Seine Thesen hat er in vielen Vorträgen und später im dreiteiligen Aufsatz „Do We Need Doctors Or Algorithms?“ (Khosla, 2012) verdichtet. Darin kritisiert er zum einen die durchschnittliche medizinische Konsultationspraxis, bei der in weniger als 15 Minuten Routinediagnosen und Standardbehandlungen aufgrund von subjektiven Symptomschilderungen und einfachen Tests erfolgten und die Compliance der Patienten/-innen in diesem antiquierten System keineswegs sichergestellt sei. Zudem könne nicht erwartet werden, dass das im Studium Gelernte, die unüberschaubare Menge neuer Erkenntnisse und Methoden oder auch Leitlinien aus dem Gedächtnis situationsgerecht abrufbar seien. Auch er fragt sich deshalb, ob es wirklich notwendig sei, über 10 Jahre intensiver Ausbildung zu durchlaufen, um in 90 % der Fälle Diagnose und Behandlung durch diese wenigen und oberflächlichen Inputs festzulegen. Dem tradierten Modell stellt er gegenüber, wie mit elektronischen und digitalen Methoden langjährige Daten von Patienten verglichen und aufbereitet, Wirkungen monitorisiert oder mit Informationen korreliert werden könnten, die von Health-Apps und telemedizinischen Analysewerkzeugen erzeugt werden. Insgesamt zeigt er, wie künstliche Intelligenz die spezifischen Fähigkeiten von Menschen und Computern nutzt, um im Gesundheitswesen – zu viel geringen Kosten – bessere Ergebnisse und mehr Nutzen zu erzielen. Weil die Gesundheitsfachpersonen Idealen aus früheren Jahrhunderten nachlebten, viele unpräzise Beurteilungsverfahren benutzen, lieber ältere bestätigte Erkenntnisse nutzen sowie Vor- und Nachteile und den effektiven Nutzen vieler neuer Behandlungen nicht wirklich einschätzen könnten, sei der typische Arzt/die typische Ärztin ein Auslaufmodell. Provokant postuliert er, dass im künftigen Gesundheitssystem Maschinen 80 % der Ärzte/-innen ersetzen werden, und dass dieses von Unternehmern, nicht von Gesundheitsfachpersonen gesteuert werde.

Zeit für Zuwendung oder Sozialromantik?

Beharrungsvermögen und Veränderungsresistenz werden immer wieder als charakteristische Merkmale des Gesundheitssektors genannt. Tief verankert ist die Vorstellung, dass die Versorgung von (kranken) Menschen nicht substituierbar ist, weil dies Face-to-Face-Konversation, Empathie, Beziehungsarbeit, Dialog und Reflexion erfordert – Robotern fehle, was Kranke und Einsame am meisten brauchen (Turkle, 2015). Ausbildungen investieren viel in diese Fähigkeiten und insbesondere in eine entsprechende Identitätsbildung. Dies umfasst die sukzessive Anpassung an Normen, berufsrelevante Vorstellungen und Wertorientierungen, aber auch die Formung von Persönlichkeit und Haltungen sowie das Wesen und den Umfang des beruflichen Handelns. Durch den Bezug auf Rollenmodelle und Traditionen werden oft idealtypische Bilder transportiert, die – überspitzt gesagt – rückwärtsgerichtete Identitäten idealisieren, professionsbezogene Territorien verfestigen, einem aufgeklärten Paternalismus Vorschub leisten, die Selbstüberschätzung bekräftigen und den Glauben bestärken, dass Patienten/-innen immer abhängig sein werden (Hellige et al. 2017).

Auffallend an der Debatte über die digitale Transformation im Gesundheitswesen ist, dass die Beherrschbarkeit und die Risiken

Siehe z. B. NZZ Zukunftsdebatte vom 17. Oktober 2018 oder auch die Reflexion von Hafen in der NZZ vom 27. November 2017 (https://www.nzz.ch/feuilleton/kuenstliche-intelligenz-solche-goetzenbrauchen-wir-nicht-Id.1326377)

deutlich seltener thematisiert werden als die Opportunitäten. Künstliche Intelligenz (KI) und damit arbeitende Instrumente werden meist als ökonomische Notwendigkeit oder als technologische Chance dargestellt. Einerseits wird ins Feld geführt, dass neue Anwendungen, neue Geräte, neue IT-Applikationen, neue Algorithmen etc. die Produktions- und Personalkosten senken, Daten wirkungsvoller verknüpfen sowie Sicherheit und Nutzen verbessern. In der Tat werden bei der Effizienzsteigerung die Erwartungen erfüllt (Britnell et al. 2016). In einem jüngst erschienen Beitrag im Fachmagazin Arzt-Spital-Pflege

Beitrag in Ausgabe 4/2018 des Fachmagazins Arzt-Spital-Pflege, S. 22ff.

werden die positiven Effekte in 11 medizinischen Fachgebieten dargestellt: Allgemeine Medizin, Pädiatrie, Radiologie, Ophthalmologie, Sportmedizin und Rehabilitation, Onkologie, Dermatologie, Notfallmedizin, Gastroenterologie, Infektionskrankheiten und Chirurgie. Auch wenn die dahinter stehende ungarische Denkfabrik The Medical Futurist (https://medicalfuturist.com) auf die Substitution bei repetitiven Aufgaben hinweist, die von Gesundheitsfachpersonen nicht gerne erledigt werden, zeigen die Beispiele, dass viele hochspezialisierte Tätigkeiten (und damit qualifizierte Arbeitsplätze) über das ganze Behandlungsspektrum betroffen sind.

Viele Gesundheitsfachpersonen haben allerdings nebst den bereits eingangs genannten Bedenken ganz grundsätzliche Einwände gegen die Zusammenarbeit mit intelligenten Systemen und lernenden Maschinen, weil sie einen Widerspruch zum Berufsethos und zur guten Praxis sehen. Ein Argument, mit dem sich Digitalisierungs-Skeptiker noch am ehesten anfreunden können, verweist auf die Zeitgewinne, die dank digitalen Helfern entstehen. Als Chance wird verkündet, dass Health Professionals wieder mehr Zeit haben werden für die Kranken und die Sorgen der Einzelnen (Steurer & Groth 2017).

Allerdings: Es ist naiv zu glauben, dass sich im industrialisierten Versorgungssystem wieder Komfortzonen und eine neue Gemütlichkeit etablieren können. Structure follows strategy, gilt auch hier. Wenn das lean management umgesetzt, die auf Effizienz getrimmten Prozesse und knappen Ressourcen die Interventionen in strenger Kadenz abwickeln, Algorithmen und Roboter die Fachpersonen unterstützen und kontrollieren, werden die Prozessführer genau hinschauen, wofür die Zeit und die (teuren) Menschen dann noch eingesetzt werden. Maschinen übernehmen alles Repetitive und alles, was automatisiert werden kann – Zeit für Zuwendung kann hinzugekauft werden.

Ein Blick in die Zukunft der Professionen: De-professionalisierte Interprofessionalität

Die sperrige und paradox klingende Ansage umschreibt, was in der Gemengelage des forcierten Wandels geschieht. Zwar passen die verbreiteten Ausbildungskonzepte, die alle noch aus dem letzten Jahrhundert stammen, akkurat zum Industrialisierungsprozess des Gesundheitswesens, weil monoprofessionelle Profile eine passgenaue Eingliederung in die Arbeitsorganisation ermöglichen. Sie erfüllen damit in erster Linie die Erwartungen der Gesundheitswirtschaft. Monoprofessionell orientierte Konzepte stehen allerdings in der Kritik, weil sie auf andere Megatrends zu wenig gute Antworten geben:

Sie werden der Multimorbidität und den komplexen Anforderungen, betreffend Versorgungskoordination und Mitbestimmung, nicht gerecht,

Sie fördern nicht fachübergreifende Synergien zur Dämpfung des Personalmangels,

Durch Einzelkämpfertum tragen sie ungenügend zur Outcome-, Performanz- und Reputationsverbesserung ganzer Organisationen bei und

Sie werden dem forschenden Lernen und der Teamorientierung der Kinder der Jahrtausendwende nicht gerecht.

Als pädagogische und gesundheitspolitische Forderung wird deshalb Interprofessionalität postuliert. Dabei geht es darum, sich im Team an ein Problem von gemeinsamer Relevanz heranzutasten, eigene und andere Konzepte und Sichtweisen zu berücksichtigen und zu verbinden, gemeinsam und mit ko-produktivem Einbezug der Betroffenen und deren Angehörigen Lösungen für das Erreichen vereinbarter outcomes zu erarbeiten. Offensichtlich wirken aber die alten Bildungskonzepte nachhaltig, denn es bewegt sich wenig. Umsetzungsstrategien sowie die mannigfaltigen Widerstände und Schwierigkeiten bei der Verankerung und beim Change Management stehen seit Jahren auf der Agenda vieler Tagungen und füllen Regale.

Noch gar nicht im Blick ist, was in der Arbeitswelt 4.0 mit den beschriebenen Digitalisierungseffekten geschehen könnte. Schematisch lässt sich der mutmaßliche Wandel als Abfolge von fundamental veränderten Organisationsprinzipien und Zuständen darstellen (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1

Mutmaßlicher Wandel der Gesundheitsversorgung durch die Digitalisierung

Wer heute in einen Gesundheitsbereich einsteigt, wird bald humanoide und humanoforme Roboter als Arbeitskollegen haben, was ganz neue Fragen zur Interprofessionalität sowie zur Ausbildung der künftigen Gesundheitsfachpersonen und Weiterbildung der bereits im System Tätigen aufwirft. Der heute geführte Interprofessionalitäts-Diskurs mit Blick auf die Integration von zwei oder wenigen anderen Fachpersonen dürfte in einer Arbeitswelt, die sich nur noch für spezialisierte Profile und Funktionen interessiert, völlig untergehen und übersteuert werden. Im günstigen Fall können die Kooperationskompetenzen überführt und erhalten werden, aber andere Beteiligte werden ihren Platz einfordern und neue Hierarchien erzeugen (vgl. Arbeitswelt 2030 in Abb. 1): zum einen Disziplinen und Funktionen, die wichtig werden oder mächtig sind, zum anderen aber auch kooperierende digitale (Assistenz-)Systeme, KI und Roboter, welche nur formalisiertenKommunikationsregeln folgen (können).

Wenn die Gesundheitswelt anders wird, müssen auchdie im Gesundheitssystem Tätigen anders werden: Es istnicht zu erwarten, dass sich konventionell-konservativeVorstellungen über die gute Berufsausübung als Beziehungsarbeit zwischen Menschen exklusiv wird halten können. Interprofessionalität, die aktuell forciert wird, muss perspektivisch auch jetzt schon den Einbezug digitaler Support-Systeme, künstlicher Intelligenz und androider Roboter umfassen.

Wie geht es Ihnen heute?

Diese Analyse mag erschreckend kulturpessimistisch klingen. Erschreckend ist allerdings auch, dass wir uns nicht fragen, wie es denn uns selber dabei gehen könnte. In der verbreiteten Euphorie über die Effekte der Digitalisierung wird verkannt, vergessen oder verdrängt, dass die Algorithmen und Automatismen auch unser Verhältnis untereinander als Menschen und Professionals grundlegend verändern werden.

Meine Begegnung mit der fast menschlichen SOPHIA

https://www.youtube.com/watch?v=THU-Mg6H994

https://www.cnbc.com/2018/06/05/hanson-robotics-sophia-the-robotpr-stunt-artificial-intelligence.html

war irritierend – auch wenn sie in Talkshows brilliert

https://www.youtube.com/watch?v=AEpiOrFoNtI

gibt es bei diesem Wesen noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Etwa beim Wahrnehmen des Gegenübers, beim Verstehen, bei der Interaktion. Es fehlt ihr schlicht an soft skills, um eine halbwegs ansprechende Konversation zu führen

Siehe z. B. die Sequenz, in der SOPHIA und Schauspieler Will Smith ein Date haben https://www.youtube.com/watch?v=Ml9v3wHLuWI

. Sie mag gesprächig sein, aber aktuell ist es ein Sozialexperiment. Es ist noch nicht ein Gegenüber, das z. B. die Frage beantworten kann, ob sich Gesundheitsfachleute vor ihresgleichen fürchten müssen. Und dieses Wesen ist nicht in der Lage, dank KI das aktuellste Wissen zu mobilisieren, zu vernetzen, zu vermitteln und zum Wohle von Patienten/-innen einzusetzen. Mit ihr kann man noch nicht kooperieren, um argumentativ Lösungswege zu erörtern, um Fehler zu vermeiden, um den Nutzen und die Qualität zu verbessern oder um zu guten Entscheidungen zu gelangen. Die Erfinder und Entwickler sagen denn auch, das sei erst künstliche Intelligenz im Kindheitsstadium.

Trotzdem: Wenn dereinst Algorithmen die Entscheide fällen und uns humanoide Roboter und menschenförmige Maschinenwesen umgeben oder sich um uns kümmern, werden dies verwandte Nachfahren von Sophia oder anderen ähnlichen Geschöpfen sein. Dass es dann nicht immer der Mensch ist, der die Maschine steuert, liegt auf der Hand. Wahrscheinlicher ist die Vision von Koshla (2012), also ein Zusammenwirken von Menschen, Maschinen und künstlicher Intelligenz, welches neue Regeln für unser Handeln, unsere Kommunikation und auch unsere Handlungsspielräume einführt.

Bildungsempfehlungen in Deutschland und der Schweiz: Leerstellen im Lehrplan

Die anbrechende Digitalisierung wird auch im Bildungsbereich wahrgenommen. Beim genauen Hinsehen wird allerdings deutlich, dass die einseitig technikfreundliche Diskussion sich nahtlos in den Bildungskonzepten niederschlägt. Zwei Beispiele aus dem deutschen Sprachraum illustrieren dies: Die Empfehlungen der Expertenkommission zum Masterplan Medizinstudium 2020 (Deutscher Wissenschaftsrat, 2018) sowie die „Empfehlungen zu Digitalisierung und Bildung“ (Akademien der Wissenschaften Schweiz, 2018).

Der deutsche Wissenschaftsrat schlägt in seinen Empfehlungen zur Neustrukturierung des Medizinstudiums (2018) einleitend einen deutlichen Ton an: „Die Digitalisierung durchdringt zunehmend die ärztliche Versorgung sowie die medizinische Forschung und Lehre. Ihre Chancen und Risiken müssen daher adäquat im Medizinstudium abgebildet werden. Im Masterplan findet die mit großer Dynamik erfolgende digitale Transformation in der Medizin bislang keine Berücksichtigung. Aus Sicht der Kommission stellt sie jedoch einen Kernaspekt einer modernen medizinischen Ausbildung dar: Bei der Weiterentwicklung des Medizinstudiums muss dem digitalen Wandel in der Medizin daher zügig ein hoher Stellenwert eingeräumt werden, auch mit Blick auf die absehbaren finanziellen Herausforderungen für die Universitätsmedizin“ (ibid., S. 9). Im Folgenden führt der Bericht eine Reihe von teils detaillierten Empfehlungen auf:

die gemeinsame Entwicklung digitaler und elektronischer Werkzeuge für Studium und Lehre (ibid., S. 10)

Präzisierungen der Lehrverpflichtungsverordnungen, um Entwicklung und Durchführung digitaler Lehrformate und interprofessioneller Lehrveranstaltungen nicht zu behindern (ibid., S. 13)

Vorbereitung auf digital gestützte Versorgungskonzepte, z. B. in der Telemedizin (ibid., S. 23)

Vermittlung von Kompetenzen im Umgang mit digitalen Technologien in Diagnostik und Therapie, die Nutzung von Daten in der Forschung (ibid., S. 38)

eine Reflexion des digitalen Wandels in der Medizin, einschließlich seiner datenschutzrechtlichen und ethischen Implikationen sowie seiner Auswirkungen auf die Rolle des Arztes und die Gesundheitskompetenz von Bürgerinnen und Bürgern (ibid., S. 38)

Kompetenzen erwerben, um souverän die Möglichkeiten der digitalen Medizin nutzen zu können (ibid., S. 38)

Nutzen digitaler Formate und Hilfsmittel für die Qualitätsentwicklung von Studium und Lehre (ibid., S. 38)

die gemeinsame Entwicklung von digitalen und elektronischen Werkzeugen für Studium und Lehre oder von Prüfungsformaten (ibid., S. 45)

den Einsatz von Lehrenden oder Einrichtungen für die (Weiter-)Entwicklung digitaler Lehre nicht durch ungünstige Regelungen zu konterkarieren (ibid., S. 100)

die Entwicklung digitaler Lehrangebote als genuinen Bestandteil hochschulischer Lehre zu betrachten und digitale Lehre anzurechnen (ibid., S. 100)

die Stabilisierung der finanziellen Rahmenbedingungen für die Digitalisierung von Lehre und Prüfungen (ibid., S. 102).

Mit Ausnahme des kurzen Abschnitts über die Reflexion der Rolle des Arztes/der Ärztin und der Gesundheitskompetenz der Bürger/-innen liegt der Fokus auf der Einführung und Nutzung digitaler Instrumente sowie deren Finanzierung. Selbst das Kapitel „Digitalisierung in der Medizin als Lehrinhalt“ (ibid. S. 37–38) bleibt vage und fokussiert auf den Erwerb von Skills zur Nutzung der Instrumente und Daten. Die Forderung von Haag et al. (2018) nach einer nationalen Initiative für digitale Lehre und digitale Medizin weist daher auf einen wunden Punkt. Eine solche Initiative müsste nebst technischen und strukturellen Aspekten zwingend auch inhaltliche Fragen sowie rollen- und identitätsbezogene Aspekte adäquat adressieren. Auch fehlen Klärungen, welche Aspekte oder Elemente mit hoher Dringlichkeit priorisiert werden sollen.

Die Empfehlungen der Schweizerischen Akademien der Wissenschaften (2018) sind in einem 10-Punkte-Programm verdichtet:

Bildung und Unternehmertum: Der Umgang mit Digitalisierung und die erforderlichen sozialen Kompetenzen sind in allen Stufen und Lernphasen zu berücksichtigen.

Stärkung der Eigenverantwortung und lebenslanges Lernen: Unternehmen sollen Anreize zur Weiterbildung schaffen und Bildungsinstitutionen sollen auch ältere Arbeitnehmer berücksichtigen.

Soziale Sicherheit: Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sollen sozialpartnerschaftlich Anreize für Weiterbildung oder Überbrückungen vorschlagen.

Dialog und Sensibilisierung: Wirtschaft, Bildungsakteure und Verwaltung müssen stärker zusammenarbeiten, um für Chancen und Risiken zu sensibilisieren und die digital literacy zu fördern.

Lehrkräfte-Lehrmethoden und digitale Skills: Die digitalen Fähigkeiten/Kompetenzen der Lehrkräfte, neue problemorientierte Lehr- und Lernmethoden, digitales Unterrichten, der Umgang mit digitalen Plattformen sowie Robotik und Programmieren sind zu fördern.

Infrastruktur und Lernprozesse: Es müssen überall die Voraussetzungen für digitales Lernen sowie Online-Plattformen für gemeinsame Lernprozesse und Zusammenarbeit geschaffen werden.

Jüngere Generation: Diese soll dynamisierend in die Entscheidungsprozesse einbezogen und Frauen sollen spezifisch für MINT-Berufe gewonnen werden.

Big Data, Open Science und Gesellschaft: Für das Zusammenführen von Datenströmen sollen Infrastrukturen aufgebaut werden. Dazu braucht es Forschungsinitiativen, um Erkenntnisse zu diesem neuen Forschungsbereich und insbesondere zu den qualitativen Voraussetzungen der Daten zu gewinnen.

Digitale Governance: Die Schweiz hat gute Voraussetzungen, um die damit verbundenen Fragen weltweit mitzuprägen.

Ausblick: Innovation darf nicht zum Störfall werden; gesucht ist eine Innovationskultur, damit die zweite Halbzeit der Digitalisierung gewonnen werden kann.

Obschon explizit Ausbildung und Lernprozesse Gegenstand dieser Empfehlungen sind, driftet das Interesse ab auf Aspekte des Arbeitsmarkts und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Lediglich die Punkte 5 und 6 befassen sich direkt mit dem Bildungsgeschehen und den Bildungsinhalten. Ähnlich wie in den Empfehlungen des Deutschen Wissenschaftsrates werden auch in der Schweiz nur Skills und Infrastrukturen adressiert.

Resümierend muss festgestellt werden, dass die Empfehlungen aus Deutschland und der Schweiz den Modernisierungsbedarf für die Form zukünftiger Ausbildungen und die zu erwerbenden Skills aufführen. Die Inhalte allerdings, die uns wegen der Megatrends auch beschäftigen müssten, werden nicht adressiert. Sie bleiben wie zu der Zeit, als die heutigen Ausbildungen konzipiert wurden; Hinweise auf Schwachstellen, Herausforderungen sowie die Transformation von Identitäten, Beziehungen und Kommunikationsmustern werden ignoriert, obschon sie bekannt sind.

Fazit für Ausbildung der Gesundheitsberufe: Formatiert für die Welt von gestern oder bereit für die Welt von morgen?

Diese weitreichende Grundsatzfrage wird in der Bildung der Gesundheitsberufe nicht gestellt. Eigentlich eine geradezu unethische Unterlassung – hängt davon doch die Perspektive und die Lebensgestaltung Zehntausender junger Menschen ab, die eindringlich motiviert werden, möglichst 30 oder 40 Jahre im Gesundheitswesen zu arbeiten. Im deutschsprachigen Raum ist die Studienrealität in allen Berufen der Gesundheitsversorgung noch weit davon entfernt, Herausforderungen aufzunehmen, die sich aus den Megatrends ableiten lassen, und den notwendigen Wandel mit all seinen Unwägbarkeiten proaktiv zu gestalten. Der Bildungsauftrag zielt auf solides Handwerk und Routine, auf den Erwerb handfester professionsbezogener Kompetenzen im Rahmen einer eng gedachten beruflichen Sozialisation und einer fest gegossenen professionellen Identität.

Werden Fortbildungen deren Öffnung und Umorientierung richten können? Oder bleiben dann nur noch die Fittesten im völlig umgekrempelten Arbeitsmarkt, diejenigen, die sich fatalistisch führen lassen oder kreativ in Nischen einfügen können, wenn alles automatisiert sein wird, was automatisiert werden kann?

Bis dahin bleibt noch Zeit, weil die Megatrends und die transformativen Effekte nicht schlagartig eintreten, sondern ein schleichender Prozess sind. Im Interesse einer nachhaltigen Personalsicherung und Vermeidung eines Praxisschocks muss die Bildung vom Silodenken und einer Formatierung wegkommen, welche auf unmittelbare Einsatzfähigkeit abzielt. Statt nur technisches Know-how und instrumentelle Skills zu vermitteln, müssen die Effekte der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz auf unsere Kultur und Identität, auf unsere Werte und Haltungen, auf die zwischenmenschliche Interaktion und das professionelle Handeln, auf die Organisation und die Teilhabemöglichkeiten, auf die Akzeptanz und die unterschiedlichen Präferenzen in der Ausbildung thematisiert werden.

Auf der strategischen Ebene müssen Zweck und Ziele mehrjähriger professionsbezogener Formung, exklusiven Wissens und ausgrenzender Identitätsbildung radikal hinterfragt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass die Millennials, die grundlegend andere Vorstellungen von der Praxis haben, die tradierten Konzepte bedenkenlos akzeptieren. Auch ist es unwahrscheinlich, dass die Altgedienten in Intensivseminaren mit der Virtual-Reality-Brille in die digitalisierte Arbeitswelt hineingeführt werden können.

eISSN:
2296-990X
Lingue:
Inglese, Tedesco
Frequenza di pubblicazione:
Volume Open
Argomenti della rivista:
Medicine, Clinical Medicine, other