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»… sie bitten, sie weinen, sie drohen« – Emotionen in katholischen Ehedispensverfahren vom ausgehenden 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts


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Anton Kößler und Maria Ortner aus der Pfarre Stilfs, im Südtiroler Vinschgau gelegen, suchten im März 1833 an, dass das ihrer Verehelichung entgegenstehende Hindernis der Verwandtschaft mittels einer Dispens

Im kirchlich-theologischen Verwendungskontext – und so auch in wesentlichen Teilen des ausgewerteten Archivmaterials – war die Dispens feminin, im staatlichen Kontext hingegen dominiert die maskuline Form, also der Dispens.

aufgehoben werden möge. Das fürstbischöfliche Konsistorium in Brixen lehnte das Ansuchen kurz darauf ab. »Obwohl nun seit dieser Zeit beinahe ein Jahr verflossen, so erschienen sie doch abermahls und erneuerten mit aller Zudringlichkeit ihre Bitte,« berichtete der für die Pfarre Stilfs zuständige Dekan von Mals im Februar 1834. So könne er »nicht anders als dieses Gesuch zur Gnädigsten Erhörung [...] neuerdings empfehlen« – dies »umso mehr als der neue in der Anlage beschriebene traurige Zustand der Bittstellerin […] Berücksichtigung« verdiene. Bei der »Anlage« handelte es sich um das Schreiben des Ortspfarrers von Stilfs vom Januar 1834. Darin schildert er den angesprochenen »traurigen Zustand«: Das abgewiesene Ansuchen habe »beyde Bittsteller mit Betrübnis erfüllet«. Insbesondere aber sei die Bittstellerin davon »so betroffen worden, daß sie von Zeit zu Zeit größere Geistesverwirrungen wahrnehmen« ließe. Und diese Verwirrungen würden zunehmen, weil sich »die Zeit ihre sehnlichsten Wünsche erfüllet zu sehen,« immer weiter hinauszöge. Daher lägen ihm auch »bald Eines, bald das Andere von ihren Freunden in die Ohren« und würden ihn fragen, ob er »denn kein Mittel wiße, daß diese Bittsteller doch einmal die so sehnlich gewünschte Dispens erhalten möchten«. Die beiden Geistlichen argumentierten mit dem Versorgungscharakter der Ehe. Diesen untermauerten sie damit, dass Maria Ortner nicht ehelich geboren war, arm sei, bereits 30 Jahre zählte und eine schwächliche Konstitution habe, die es ihr nicht erlaube, als Magd in den Dienst zu gehen. Der erste Zeuge des Paares gab im Matrimonialexamen an, der Bittwerber scheine »die Person aus Erbarmung [zur Frau] nehmen zu wollen«. Mit diesem neuerlichen Anlauf hatten sie Erfolg. Bereits Ende Mai 1834 langte die erforderliche Dispens aus Rom ein.

Diözesanarchiv Brixen (DIÖAB), Konsistorialakten 1834, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 8.

In Dispensverfahren wird mit Emotionen gearbeitet – das zeigen bereits die zitierten Ausschnitte aus einem einzigen Fall: Hier stecken sie in der »Zudringlichkeit der Bitte«, im »traurigen Zustand«, in der Betrübnis und Betroffenheit bis zur Geistesverwirrung, in der »sehnlich gewünschten Dispens«, im »Erbarmen« des Bräutigams. Ins Spiel gebracht werden Emotionen von unterschiedlichen in das Verfahren involvierten Personen. Geistliche auf den unteren Ebenen bringen sie als Verfasser der an die jeweils nächsthöhere Stelle adressierten Schreiben zum Ausdruck – zum Teil in der Beschreibung von Situationen, in die sie selbst versetzt wurden, hier etwa durch Zudringlichkeit –, zum Teil in der Beschreibung oder vermittelten Wiedergabe des Leidens und Wünschens der sogenannten »Bittsteller« oder »Dispenswerber«. Aber auch Dritte sprachen von Emotionen: Im skizzierten Fall waren dies zum einen »Freunde«, ein Begriff, der zeitgenössisch (auch) Verwandte meinen konnte, und zum anderen die Zeugen, die zusätzlich zum Brautpaar im sogenannten Matrimonialexamen aussagen mussten. Das lässt darauf schließen, dass es auf lokaler Ebene Kommunikation und Wissen um angestrebte und gescheiterte Dispensansuchen gab. Innerhalb des in den ausgewerteten Dispensansuchen dokumentierten emotionalen Spektrums liegt der Fall des Anton Kößler und der Maria Ortner sozusagen im Mittelfeld. So finden sich in anderen Ansuchen diverse Variationen und Steigerungsstufen von Liebe und Leidenschaft ebenso wie von Verzweiflung, aber auch von Zudringlichkeit, etwa wenn von ungestümen und hartnäckigen, von lästigen und sogar »unverschämtlästigen«

DIÖA Brixen, Konsistorialakten 1833, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 10. Den Ausdruck »unverschämtlästig« verwendete hier der Konsistorialkanzler im letzten Schreiben eines Dispensverfahrens, das damit endete, »daß diese Angelegenheit einsweil auf sich zu beruhen habe«.

Dispenswerbern die Rede ist.

Davon ausgehend steht im Folgenden die Frage im Mittelpunkt, was das Einflechten von Emotionen in das paperwork der Dispensverfahren macht, wie sich diese Beschreibungsweise in Interaktion übersetzt. Die Ausgangsthese ist, dass die »Bittsteller« Emotionen, wenn auch nicht ausschließlich, als ein Instrumentarium zu nutzen versuchten, um ihr Anliegen voranzutreiben, und die Geistlichen auf den unteren Ebenen das Schreiben von Emotionen als ein Instrumentarium einsetzten, um ihre Vorgangsweise zu legitimieren. Dass es beim Verhandlungsgegenstand einerseits um Heiratsprojekte und damit oft um existenzielle Zukunftsplanung ging, deren Realisierung infrage stand, und andererseits eine kirchliche Verwaltung über deren Ausgang entschied, eine Institution also, die sich als »barmherzige Mutter« definierte, dürfte Präsenz und Vehemenz von Emotionen nicht nur befördert haben, sondern maßgeblich auch die Logiken der Dispensverfahren selbst. Daher soll in einem ersten Schritt die Spezifik kirchlicher Verwaltung in Ehedispensagenden als breiterer Kontext herausgearbeitet und in einem zweiten Schritt das Quellenmaterial vorgestellt werden. Im zweiten Teil des Beitrags wird das Schreiben von Emotionen mit empirisch zentralen Handlungsfeldern verknüpft.

Kirchliche Verwaltung und Ehedispensagenden

Verwaltung wird gemeinhin mit staatlichen Institutionen sowie mit dem zunehmenden Ausbau der Bürokratie im Zuge neuzeitlicher Staatsbildungsprozesse in Verbindung gebracht.

So auch in den ersten beiden Nummern dieser Zeitschrift zu den Themen »Verwaltungsgeschichte im Dialog« (1, 2016) und »Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert« (2, 2017).

Dem gegenüber steht eine Perspektivierung, die Agenden und Vorgehen von Seiten der Kirche als verwalterisches Handeln erachtet, in der Kulturgeschichte der Verwaltung stärker im Hintergrund. Doch nahm insbesondere die päpstliche Kurie mit ihrem Behördenapparat in Rom, der ausgehend von ersten Einrichtungen im 12. Jahrhundert vor allem am Beginn der Neuzeit einen massiven Ausbau erfuhr. Diese umfassten ökonomische, politische und vor allem rechtliche Belange.

Siehe beispielsweise Christian Wieland: »Verwaltung«, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hrsg. von Friedrich Jaeger, online unter: http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_a4589000 (29. 4. 2018). Er definiert Verwaltung eingangs als »Kennzeichen entwickelter moderner Staaten«. In der Folge verweist er auf unterschiedliche Verwaltungszusammenhänge – von Imperien bis zu Dörfern und Körperschaften – und hebt schließlich die Bedeutung der kirchlichen Verwaltung und der römischen Kurie hervor, der im weiteren Verlauf ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Etliche Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom bzw. im Kirchenstaat sind in den letzten zwanzig Jahren entstanden. Verwiesen sei hier stellvertretend auf Birgit Emich: Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1603–1621), Stuttgart 2001.

Die folgenden Ausführungen nehmen ihren Ausgang von Inzestvorstellungen und -tabus und davon abgeleiteten Verwandtenheiratsverboten. Der Schwerpunkt liegt auf der Diözese Brixen, die im 19. Jahrhundert den nördlichen Teil des historischen Tirol und Vorarlberg umfasst.

Vgl. Michael Mitterauer: »Christentum und Endogamie«, in: ders., Historisch-Anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen, Wien, Köln 1990, S. 41–85; Ludwig Schmugge/Patrick Hersperger/Béatrice Wiggenhauser: Die Supplikenregister der päpstlichen Pönitentiarie aus der Zeit Pius’ II. (1458–1464), Tübingen 1996.

Das Ehehindernis der Verwandtschaft konstituierte seit dem Frühmittelalter einen prominenten Bereich kirchlicher Normierung, die in katholischen Räumen über Jahrhunderte von säkularen Gesetzeswerken eins zu eins übernommen wurden.

Siehe z. B. das Bayerische Landrecht vom Jahre 1756. Codex Maximilianeus Bavaricus civilis, Von dem Ehestand § 9; Constitutio Criminalis Theresiana 1768, Art. 75. Zur kirchlichen Prägung des österreichischen Eherechts vgl. Stefan Schima: »Das Eherecht des ABGB 1811«, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2 (2012), S. 13–26.

Verwaltung kam in diesem Zusammenhang dann ins Spiel, wenn ein Paar heiraten wollte, trotzdem es in einem verbotenen Grad verwandt war. Die verbotenen Grade reichten nach kanonischem Recht bis zum vierten Grad – bis zu Cousins und Cousinen dritten Grades – und damit bis zu den gemeinsamen Ur-Urgroßeltern zurück. Diese Regelung galt seit dem vierten Laterankonzil von 1215, auf dem Papst Innozenz III. die Verbote vom siebten auf den vierten Grad reduzierte, und bestand unverändert bis zur Einführung des Codex Iuris Canonici im Jahr 1917 fort.

Klassisch dazu Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Frankfurt am Main 1989 [engl.: The Development of the Family and Marriage in Europe, Cambridge 1983].

Kennzeichnend für die kirchliche beziehungsweise mittelalterliche und frühneuzeitliche Konzeption von Verwandtschaft war, dass sich diese nicht nur auf die sogenannte Blutsverwandtschaft (consanguinitas) bezog, sondern auch Schwägerschaft (affinitas) mit einschloss.

Diese Ausdehnung gründet auf der Vorstellung, dass Mann und Frau im Geschlechtsakt zu »einem Fleisch« (una caro) verschmelzen. Zu den unterschiedlichen Verwandtschaftssubstanzen siehe Anita Guerreau-Jalabert: »Flesh and Blood in Medieval Language about Kinship«, in: Christopher H. Johnson u. a. (Hg.): Blood & Kinship. Matter for Metaphor from Ancient Rome to the Present, New York, Oxford 2013, S. 61–82.

Zudem gab es Heiratsverbote aufgrund von Patenschaftsbeziehungen, die sich aus der geistigen oder geistlichen Verwandtschaft (cognatio spiritualis) herleiteten.

Vgl. dazu Guido Alfani: Fathers and Godfathers. Spiritual Kinship in Early-Modern Italy, Farnham 2009; ders. / Vincent Gourdon (Hg.): Spiritual kinship in Europe, 1500–1900, Basingstoke 2012; Bernhard Jussen: Spiritual Kinship as Social Practice. Godparenthood and Adoption in the Early Middle Ages, London, Newark 2000.

Die Dispensierung für nahe blutsverwandte und verschwägerte Paare gestaltete sich in der Zeit zwischen dem ausgehenden 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts in wechselnden Konjunkturen der Milde und Strenge.

Der Beitrag basiert auf Ergebnissen, die im Rahmen eines Hertha Firnberg- und eines Elise Richter-Habilitationsprojekts, finanziert vom Österreichischen Forschungsfonds (FWF), zwischen 2005 und 2011 erarbeitet beziehungsweise auf Material, das in diesem Kontext erhoben wurde. Siehe Margareth Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert, Wien u. a. 2015.

Dispensen waren ein Instrumentarium der katholischen Kirche, das in vielerlei Hinsicht zum Einsatz kam. Der Definition nach hatten Dispensen den Zweck, Normen zu lockern (iuris relaxatio).

Vgl. Luca Bianchi: »›Cotidiana miracula‹, comune corso della natura e dispense al diritto matrimoniale: il miracolo fra Agostino e Tommaso d’Aquino«, in: Quaderni storici 131 (2009), S. 313–328, hier: S. 320.

Sie waren also dafür gedacht, unter bestimmten Voraussetzungen und in Ausnahmefällen Härten des Rechts auszugleichen.

Vgl. Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici 1. Einleitung, Allgemeiner Teil und Personenrecht, München u. a. 1959, S. 174.

Die Erteilung einer Dispens war – und darauf pochten kirchliche Repräsentanten immer wieder – ein Akt der Gnade; es gab keinen Rechtsanspruch darauf. Dieser Umstand strukturierte die Verfahrensverläufe grundlegend.

Die Heiratsverbote des kanonischen Rechts wiesen zwar eine beträchtliche Persistenz durch Jahrhunderte hindurch auf, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse veränderten sich jedoch im Laufe der Neuzeit und mit ihnen auch Ehe- und Liebeskonzepte sowie Kriterien der PartnerInnenwahl.

Vgl. Edith Saurer: Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Margareth Lanzinger, Wien u. a. 2014, Kap. 1.

So haben Studien zu unterschiedlichen europäischen Regionen gezeigt, dass ab Mitte, spätestens ab Ende des 18. Jahrhunderts ein merklicher Anstieg von Eheschließungen in den verbotenen Graden der Verwandtschaft feststellbar ist,

Klassisch dazu Gérard Delille: Famille et propriété dans le Royaume de Naples (XVe–XIXe siècle), Rome, Paris 1985; David Warren Sabean: Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998, S. 217–237; Jon Mathieu: »Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends«, 1500–1900, in: Historische Anthropologie 10/2 (2002), S. 225–244.

und zwar in verschiedenen sozialen Milieus, vor allem im bürgerlichen,

Dies bringt David Warren Sabean zur Schlussfolgerung, dass Verwandtschaftsintegration und bürgerliche Klassenformation aufs Engste zusammenhängen. David Warren Sabean: »Kinship and Class Dynamics in Nineteenth-Century Europe«, in: ders. / Simon Teuscher / Jon Mathieu (Hg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York, Oxford 2007, S. 301–313.

aber auch darüber hinaus, und insbesondere in den nahen Graden: zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades (zweiter Grad der Blutsverwandtschaft) sowie zwischen Schwager und Schwägerin (erster Grad der Schwägerschaft). Bis dahin war eine Dispensierung in diesen Paarkonstellationen vornehmlich ein adeliges Privileg.

Vgl. Margareth Lanzinger: »Verwandtenheirat – ein ‚aristokratisches‘ Ehemodell? Debatten um die Goody-Thesen und Dispenspraxis Ende des 18. Jahrhunderts«, in: dies. / Christine Fertig (Hg.): Beziehungen, Vernetzungen, Konflikte. Perspektiven Historischer Verwandtschaftsforschung, Wien u. a. 2016, S. 143–166; vgl. auch die Befunde von Raul Merzario: Il paese stretto. Strategie matrimoniali nella diocesi di Como, secoli XVI–XVIII, Torino 1981, S. 54–55.

Die Zunahme von Heiratsprojekten unter Verwandten impliziert das Ansteigen von Dispensansuchen in den nahen Graden der Verwandtschaft und Schwägerschaft. Dieses Phänomen ist auch in der Diözese Brixen zu beobachten. Die Praxis der Dispensvergabe gestaltete sich in der Folge zwar tendenziell großzügiger, aber keineswegs im Sinne einer linearen Liberalisierung. Im ersten und zweiten Grade erfolgte die Erteilung von Dispensen in Brixen – wie auch in Salzburg und Trient – im 19. Jahrhundert über die päpstlichen Stellen in Rom: über die Datarie und die Pönitentiarie, in manchen Fällen auch über die Nuntiatur in Wien. Das Verwaltungsprozedere verkomplizierte sich ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert dadurch, dass der Staat begann, in bis dahin rein kirchliche Domänen einzugreifen. Ansuchen durften in der Folge nur noch über die Diözesen nach Rom gesandt werden,

Zur Vermittlungspraxis im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Marina D’Amelia: »Agenti e intermediari tra negozi curiali e merci false (Roma tra Cinque e Seicento)«, in: Quaderni storici 124 (2007), S. 43–78.

und für jedes Ansuchen musste vor der Weiterleitung nach Rom die landesfürstliche Genehmigung (placetum regium) eingeholt werden. Für jede in Rom erteilte Dispens war eine landesfürstliche Bestätigung erforderlich, bevor die Trauung erfolgen durfte.

Vgl. dazu Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, Kap. 2.

Weitere Veränderungen brachte schließlich das josephinische Ehepatent von 1783. Es reduzierte die dispenspflichtigen Grade vom vierten auf den zweiten Grad. Vor allem aber verlangte die neue Regelung von den Bischöfen, dass sie die Dispensen im weiterhin dispenspflichtigen ersten und zweiten Grad aus eigener Macht und Autorität erteilen, das heißt also die päpstlichen Stellen in Rom umgehen und damit ausschalten sollten.

Vgl. dazu Johannes Mühlsteiger: Der Geist des Josephinischen Eherechtes, Wien, München 1967; Adalbert Theodor Michel: Beiträge zur Geschichte des österreichischen Eherechtes, Graz 1870.

Dies erwies sich in der Umsetzung letztlich als nahezu unmöglich – zumal in romtreuen Diözesen, zu denen Brixen zählte. Nach den Jahren des Krieges, der politischen Umbrüche und der territorialen Neuordnung der Diözese Brixen in den ersten eineinhalb bis zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte die Kirche hier wiederum weitergehend die Definitions- und Verwaltungsmacht in Dispensangelegenheiten inne, während etwa im Vergleich dazu in der benachbarten Diözese Trient die weltlichen Institutionen deutlich stärker in die Verwaltungsabläufe involviert blieben und deutlich weniger streng über Ansuchen entschieden.

Siehe dazu Margareth Lanzinger: »Staat, Kirche, Eheagenden. Staatliche Integration in komplexen rechtsräumlichen Gefügen«, in: Francesca Brunet / Florian Huber (Hg.): Vormärz. Eine geteilte Geschichte Trentino-Tirols [Una storia condivisa Trentino-Tirolese], Innsbruck 2017, S. 143–161.

Quellenmaterial und Begründungslogiken

Für die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ist der Schriftverkehr zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen überliefert, der über das Gubernium in Innsbruck lief.

Das Gubernium war im Jahr 1763 in dieser bis Mitte des 19. Jahrhunderts bestehenden Form im Zuge einer ersten großen Zentralisierungsmaßnahme, die den Eingriff in die Länder erleichtern sollte, eingerichtet worden. Abgelöst wurde es 1848 durch die Statthalterei. Dem Gubernium unterstanden auf nächster Ebene die bereits 1754 eingeführten Kreisämter.

Diese war für die landesfürstlichen Territorien in den Diözesen Brixen und Trient zuständig, aber auch für zahlreiche weitere Teile von Diözesen, deren politisches Territorium nach Tirol hineinreichte – wie im Fall der Diözesen Augsburg, Chiemsee, Chur, Freising, Konstanz, St. Gallen, Aquileia, Feltre, Padua, Udine und Verona. Die Korrespondenzen eröffnen den Zugang zu den divergierenden Logiken von Repräsentanten der Kirche und des Staates. Die Situation war in diesen Jahren von Konkurrenz um Definitionsmacht und Kompetenzen geprägt und machtpolitisch entsprechend aufgeladen. Dies fand seinen Niederschlag in Konflikten und Kontrollmaßnahmen, in wiederholten Rügen und Ordnungsrufen, die an die Bischöfe, insbesondere an jene von Brixen, adressiert waren, die unverhohlen und beharrlich die kirchliche über die staatliche Autorität stellten.

Für die Diözese Brixen ist ab 1831 umfangreiches Aktenmaterial in Form von Ehedispensansuchen in den nahen Graden der Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft unter dem Titel »Römische Dispensen« überliefert.

Im ferneren dritten und vierten Grad konnte in der Diözese Brixen in dieser Zeit der Bischof entscheiden, in den 1850er-Jahren dann die Dekane.

Diese umfassen die Korrespondenz zwischen den zuvor genannten in die Verfahren involvierten kirchlichen Stellen entlang der Hierarchie vom Dorfpfarrer bis zur päpstlichen Kurie. Die Schreiben von lokalen Geistlichen und Dekanen enthalten, sofern sie die Dispenserteilung befürworteten, vielfach sehr ausführliche Situationsschilderungen wie auch die sogenannten »Matrimonialexamen«. Dabei handelt es sich um die Protokolle der Befragung von zwei Zeugen sowie von Bräutigam und Braut, die in aussichtsreichen Fällen im zuständigen Dekanat aufgenommen wurden. Eine Reihe weiterer Dokumente konnte in den Fallakten enthalten sein: Tauf- und Totenscheine, Stammbäume, Bestätigungen der Gemeindevorstehung, in manchen Fällen auch ärztliche Zeugnisse. Keines der für die Zeit zwischen 1831 und 1890 überlieferten über 2000 Dispensansuchen klingt wie das andere.

Das Erteilen einer Dispens in den nahen Graden der Verwandtschaft und Schwägerschaft war in der hier infrage stehenden Zeit keineswegs ein Formalakt. Das lässt sich sowohl am aufwendigen administrativen Prozedere ablesen als auch an den zahlreichen abgelehnten Ansuchen. Das bischöfliche Konsistorium in Brixen agierte vergleichsweise rigide, sodass verwandte Brautpaare mehrheitlich bereits auf dieser Ebene abgewiesen wurden und zahlreiche Ansuchen nie nach Rom gelangten. Besonders schwierig war es in den Jahren zwischen 1831 und 1846 unter der Ägide von Papst Gregor XVI. Dispensen in den nahen Schwägerschaftsgraden zu erlangen. Dies sollte nur mehr im Fall der »Gefahr des Abfalls vom Glauben« (periculum defectionis a fide) möglich sein. Insbesondere in dieser Zeit sind vielfältige Umwege und Strategien, die mit ihrem Ansuchen abgewiesene Brautpaare einzuschlagen versuchten, im Quellenmaterial dokumentiert, denn entsprechend streng wurde bereits auf Diözesanebene vorgefiltert.

Vgl. Margareth Lanzinger: »Widowers and their Sisters-in-Law. Family Crises, Horizontally Organised Relationships and Affinal Relatives in the Nineteenth Century«, in: The History of the Family, 23 (2018), 175–195.

Nicht zuletzt wird sichtbar, dass abgewiesene Brautpaare oft über viele Jahre hinweg immer wieder einen neuen Anlauf unternahmen, um eine Dispens zu erhalten.

Siehe dazu Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, Kap. 4.

Ansuchen mussten kanonische Dispensgründe enthalten, Begründungen also, die die damit befassten kirchlichen Stellen anerkannten, die aber auch einen gewissen Interpretationsspielraum boten. Dazu gab es entsprechende Listen, die im Laufe der Jahrhunderte länger wurden. Ein Teil der offiziellen Dispensgründe bezog sich ausschließlich auf Frauen. Die Möglichkeit, eine ihrem Status entsprechende Ehe einzugehen, sollte durch die Verbote nicht grundsätzlich verhindert werden. Kanonische Begründungen, die nur für Frauen galten, betrafen folgende Situationen: Wenn eine Frau bereits 24 Jahre alt war, eine nur geringe oder keine Mitgift zu erwarten hatte, wenn sie an ihrem Wohnort keine andere ihrem sozialen Stand entsprechende Heiratsgelegenheit finden konnte, wenn ihr Ruf und ihre Ehre in Gefahr waren oder wenn es sich um eine Witwe mit unversorgten Kindern handelte.

Vgl. Edith Saurer: »Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreichs (1790–1850)«, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 345–366, hier: S. 356–357.

Das Erfordernis einer den kirchlichen Kriterien entsprechenden Begründung eröffnete breiten Raum für strategische Kommunikation. Die von kirchlicher oder staatlicher Seite vertretenen Logiken, denen die Dispensansuchen in ihrer Argumentation folgen sollten, entsprachen in vielen Fällen nicht den Sorgen und Nöten der betroffenen Männer und Frauen, wie die ausführlichen Beschreibungen schwieriger Lebenssituationen jenseits der offiziell anerkannten Dispensgründe in den Dokumenten zeigen. Dies macht das Quellenmaterial besonders wertvoll, auch wenn es nicht den direkten Zugriff auf ‚authentische‘ Aussagen der heiratswilligen Männer und Frauen ermöglicht. Vielfältige familiale und ökonomische Problemlagen kamen darin zur Sprache – und nicht zuletzt auch Emotionen.

Emotionen sind aus historiografischer Sicht ein schwieriges Terrain. Robert Garot bezeichnet sie als »enigmatic and slippery«, als »messy and often difficult to interpret« und als »quick, embodied, deeply contextualized phenomena«.

Peter Collin / Robert Garot / Timon de Groot: »Bureaucracy and Emotions – Perspectives across Disciplines«, in: Administory 3 (2018), S. 1–20, hier S. 10.

Sie sind der historischen Analyse immer nur in Form von Repräsentationen zugänglich und situativ geprägt. Die Ausdrucksweisen von Emotionen variieren nach Kontext, Zeit, Raum und sozialem Milieu und folgen unterschiedlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Bedeutungszuschreibungen. So ist bei der Interpretation der Zusammenhang zwischen der Art der Darstellung und dem spezifischen Darstellungsmedium heuristisch als zentral anzusehen.

Vgl. Claudia Benthien / Anne Flaig / Ingrid Kasten: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u. a. 2000, S. 7–20, hier: S. 9.

Das hier zur Debatte stehende Medium sind Ehedispensansuchen. Ansuchen zählen nicht zur Kategorie der Selbstzeugnisse. Die einzelnen Dokumente sind nahezu durchgängig – mit Ausnahme von einigen wenigen eigenhändig verfassten Bittbriefen und amtlichen Schreiben – von Geistlichen produziert; sie sind von kommunikativen Strategien durchzogen und an den Erwartungshaltungen der Adressaten ausgerichtet. Denn es ging – sofern die zuständigen Geistlichen das Anliegen mittrugen – darum, die nächsthöhere Instanz davon zu überzeugen, dass das Brautpaar die Voraussetzungen erfüllte, um eine Dispens zu erlangen, dass das Ansuchen also hinlänglich begründet war.

Emotionale Kommunikations- und Handlungsfelder

Fragt man danach, in welchen Situationen und Zusammenhängen Emotionen in die Verwaltungsabläufe rund um Ehedispensansuchen hineinspielten und sichtbar werden, so lassen sich vor allem drei Bereiche identifizieren. Erstens wird die Beziehung des Paares in jenen Textsorten oder Begründungspassagen, die das Ansuchen befördern sollten, in Begriffe von Liebe und Leidenschaft gefasst, wenn auch lange nicht immer. Spezifisch für Dispensansuchen war, dass sie in ihrer Argumentation für die infrage stehende Eheschließung nicht zu vordergründig oder einseitig ökonomisch ausgerichtet sein durften. Das heißt, dass das Vorhandensein einer gewissen emotionalen Nähe und Verbundenheit zwischen Bräutigam und Braut von kirchlicher Seite erwartet wurde und ebenso das Vorhandensein kanonischer Gründe. Der Konsistorialkanzler Alois Rabanser erklärte in seinem Schreiben vom Juni 1839, dass das Ansuchen des Joseph Dietl und seiner Cousine Theres Zerz, »nach dem Ordinariats-Gutachten« zurückzuweisen sei, »da nur bloß ökonomische und gar keine wichtigen kirchlichen Gründe zur Erlangung einer Dispense im so nahen Grade vorkommen« würden. Joseph Dietl war ein Bauer im oberen Vinschgau und Theres Zerz, seine Cousine, eine Bauerntochter, die in Meran als Dienstmagd tätig war. Sie hatten ein gemeinsames Kind, was allerdings nicht publik – »ganz verborgen« – war. Der zuständige Dekan hatte diesbezüglich in seinem Schreiben an das Konsistorium bemerkt, dass man »auch auf dem Lande [...] schon von allen Lastern Gebrauch zu machen« wisse. So stand das Ansuchen von vorn herein unter keinem guten Stern.

DIÖAB, Konsistorialakten 1839, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 21.

Die Darstellungsform von Emotionen variierte in den Ansuchen beträchtlich: Emotionale Bezüge konnten gänzlich fehlen oder in einer lateinischen Formel zum Ausdruck kommen oder sie wurden sehr vermittelt – über positive Bilder und Eigenschaften, die eine stabile Grundlage der Ehe suggerieren mochten – transportiert.

In der Aussage des 39-jährigen Witwers Johann Lösch wurde die Liebeserklärung an seine Braut Anna Grabherr – »die ich sehr liebe« – im Protokoll des Matrimonialexamens nachträglich zwischen den Zeilen eingeflickt. Wenn Birgit Aschmann fordert, man müsse »die Quellen auch gerade nach dem ab[]tasten, was ›zwischen den Zeilen‹ steht«, so ist das hier nicht nur im übertragenen, sondern auch im manifesten Sinn umzusetzen. DIÖAB, Konsistorialakten 1840, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 25. Birgit Aschmann: »Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte«, in: dies. (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9–32, hier: S. 31.

Während bei Anton Hackl als Begründung für die Partnerinnenwahl an erster Stelle »affectio cordis« angeführt war,

DIÖAB, Konsistorialakten 1835, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 12.

stand in der im Matrimonialexamen protokollierten Aussage von Maria Anna Grabherr, dass sie den Bräutigam »von Herzen liebe«.

DIÖAB, Konsistorialakten 1840, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 25.

Der Innsbrucker Handelsmann Karl Mörz beschrieb in einem Bittbrief seine Braut und seine Zuneigung zu ihr mit folgenden Worten:

[S]ie war es, die mit ihrer Bescheidenheit den Frieden und Eintracht in der Famillie bewahrte, und das ganze Haus mit kluger Häuslichkeit ordnete und leitete. Sie war stets und ist es noch, unser aller unermüdete Pflegerin und Wohltäterin. Eben diese seltene Eigenschaften, und keine andern sind es, welche mich an sie hinziehen, und auf welche ich meine zukünftige Ruhe und Glück baue [...].

DIÖAB, Konsistorialakten 1832, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 5.

Leidenschaft kam vor allem dann zur Sprache, wenn ein »öffentliches Ärgernis« vorlag, wenn der Umgang als »verdächtig« und »zu vertraulich« galt oder die Braut schwanger war. Offiziell sollten nur ‚würdige‘, also in ihrem moralischen Lebenswandel untadelhafte Brautpaare eine Dispens erhalten. Daher bedeutete das Überschreiten moralischer Grenzen, dass sich die Paare je nach dispenspolitischer Lage auf einem schmalen Grad bewegten: zwischen einer verminderten oder – da allein eine Heirat die missliche Situation ‚reparieren‘ konnte – einer erhöhten Chance, eine Dispens zu erlangen. Leidenschaft umschrieb hier die »menschliche Schwachheit« und fungierte damit als Legitimation für die Transgression. Positive Emotionen, die in Begründungszusammenhänge von Dispensen eingeflochten sind, dokumentieren die Fabrikation von Liebe.

Emotionen scheinen zweitens in der Thematisierung und Beschreibung von Zuständen der Enttäuschung und Verzweiflung auf, die bis zur Schwermut und zum angedrohten Selbstmord reichen konnten, wenn ein Ansuchen abgewiesen worden war. Drittens sind sie in der Performanz und damit in unterschiedlichen Interaktionsräumen dokumentiert. Dazu zählt das Fortdauern der Beziehung oder zeitgenössisch der »Bekanntschaft« der Brautleute, aber auch Versuche der Involvierung von Dritten als potenzielle Vermittler für einen weiteren Anlauf, vor allem aber die Interaktion zwischen den kirchlichen Repräsentanten und den Brautpaaren. Das Spektrum umfasst demnach sowohl ‚innere‘ Vorgänge als auch ‚äußere‘ Reaktionen,

Zu diesen Definitionen siehe Monique Scheer: »Are Emotions a Kind of Practice (and is that what Makes them have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotions«, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220; Aschmann: Vom Nutzen und Nachteil, S. 12. Sie kommt nach diversen Auffächerungen zum Schluss, dass es »ebenso müßig wie unmöglich« sei, »um einen festgelegten Kanon elementarer Gefühle zu ringen«. Ebd., S. 14.

wobei wir als HistorikerInnen, die sich mit vergangenen Jahrhunderten befassen, stets auf die Sprache verwiesen sind und kaum Zugang zu Gestik, Mimik, Tonfall etc. haben und wenn, wiederum sprachlich vermittelt.

Vgl. Aschmann: Vom Nutzen und Nachteil, S. 31 mit Verweis auf Alain Corbin und dessen Sicht auf den Historiker als »Gefangener der Sprache«. Alain Corbin: »Zur Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung«, in: Christoph Conrad / Martina Kessel (Hg.): Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 121–140, hier: S. 128.

Die folgenden an zwei Fällen aufgerollten Ausführungen gehen von der Annahme aus, dass die Situation der kommunizierten Aussichtslosigkeit, eine Dispens zu erhalten und eines abgelehnten Ansuchens, ein in Hinblick auf Emotionen verdichtetes Kommunikations- und Handlungsfeld generiert hat. Der Schwerpunkt liegt damit auf der Situiertheit und Situativität von Emotionen, die sich dem bereits vielfach kritisierten Narrativ linear zunehmender Affektkontrolle versperrt.

Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation stellt dabei häufig den Ausgangspunkt der Kritik dar. Siehe Barbara H. Rosenwein: »Controlling Paradigms«, in: dies. (Hg.): Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca, London 1998, S. 233–247; Gerd Schwerhoff: »Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht«, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 561–605.

Der Zugang ist ein praxeologischer, der nach dem Gebrauch von Emotionen im kirchlichen Verwaltungskontext fragt, und zwar in einer vergleichsweise rigide agierenden Diözese.

Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, Kap. 3. Edith Saurer hat deutliche Unterschiede zwischen Niederösterreich und Venedig festgestellt: Edith Saurer: »Formen von Verwandtschaft und Liebe – Traditionen und Brüche. Venetien und Niederösterreich im frühen 19. Jahrhundert«, in: dies. / Margareth Lanzinger (Hg.): Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, S. 255–271.

Die Fragestellungen richten sich auf die Art und Weise, in der Emotionen auf Seiten der Verwalter wie der Verwalteten wirkmächtig wurden.

Situativ sind zwei Kontexte der kommunizierten Aussichtslosigkeit und der Ablehnung zu unterscheiden: zum einen am Beginn, bevor ein Verfahren überhaupt in Gang kam, und zum anderen als Folge von Anfragen und Ansuchen, die an die jeweils nächsthöhere Stelle weitergeleitet worden waren. Die Dispensakten dokumentieren eine Art ‚Eingangsritual‘, das vermutlich auf den Gnadencharakter und auf die erforderliche spezifische Begründung zurückzuführen ist, aber auch mit der strengen Vorgangsweise in der Diözese Brixen zusammenhängen könnte: Ein verwandtes oder verschwägertes Paar musste dreimal bei dem für sie lokal zuständigen Geistlichen das Ansinnen vorbringen, dass sie heiraten wollten, bevor derartige Eheschließungswünsche an das Dekanat weitergeleitet wurden und damit überhaupt schriftlich dokumentiert sind. Die lokalen Geistlichen waren angewiesen, Paare, die von einem solchen Ehehindernis betroffen waren, grundsätzlich abzuweisen. Vereinzelt finden sich entsprechende Argumente in den Korrespondenzen angeführt: Kirche und Staat seien gegen solche Verbindungen, hieß es bisweilen. »Die h[eilige] Mutter, die katholische Kirche, dispensirt in Verwandtschafts- und Verschwägerungs-Graden sehr ungern«,

DIÖAB, Konsistorialakten 1833, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 24.

schrieb etwa der Dekan Johann Baptist Sinz aus dem Bregenzerwald. Brautpaare wurden auch damit konfrontiert, dass solche Ehen unglücklich werden würden, aufgrund von nicht explizit ausgeführten »daraus entspringenden argen Folgen« und des »Mangels der Eheliebe«.

DIÖAB, Konsistorialakten 1841, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 38.

Oder: Die »traurige Erfahrung« lehre, dass solche Ehen »gewöhnlich kein gutes Ende nehmen«.

DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 41.

Die Frage ist, wie sehr das Wissen um das notwendige dreimalige Anfragen, um ein Dispensansuchen in Gang zu bringen, verbreitet war – vermutlich eher in jenen Orten und Einzugsräumen, in denen Dispensansuchen häufiger vorkamen, aber nicht generell. Im Fall der verwitweten Maria Prader, die neun Kinder hatte und ihren Cousin Jakob Prader ehelichen wollte, vermerkte Nikolaus Gander, Kurat in Afers bei Brixen 1860, dass es während seiner acht Jahre zuvor angetretenen Amtszeit bislang zwei solche Eheschließungen »zwischen Geschwisterkindern« gegeben habe und dass er im vorliegenden Fall das Paar vier Jahre lang »von dieser vorhabenden Verehelichung abgemahnt« habe.

DIÖAB, Konsistorialakten 1861, Fasz. 22a, Römische Dispensen, Nr. 24.

In Bezug auf eingeleitete Verfahren ist festzustellen, dass in den Jahren zwischen 1831 und 1846, in der Amtszeit von Gregor XVI., in der Diözese Brixen etwas über 20 Prozent der Ansuchen – zum überwiegenden Teil bereits auf Diözesanebene – abgewiesen wurden. Unter dessen Nachfolger Pius IX. waren es mit 12 Prozent in den ersten 15 Jahren seiner Amtszeit deutlich weniger.

Vgl. Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, S. 253.

Doch gab es in der Folge weitere Wellen der Ablehnung: Mitte der 1860er-Jahre und ab den 1880er-Jahren. In dieser Zeit wurde es – im Unterschied zu den 1830er- und beginnenden 1840er-Jahren, in denen Verbindungen in der nahen Schwägerschaft von grundsätzlicher Ablehnung betroffen waren – schwieriger, eine Dispens für Heiratsvorhaben zwischen Cousin und Cousine ersten Grades zu erlangen. Die Situation des Scheiterns eines Ansuchens ließe sich mit Robert Garot als »occasion of ‚bad news‘« beschreiben und als »opportunity for the expression of emotion« fassen. Der Versuch, Reaktionen auf die schlechte Nachricht abzumildern – Garot spricht von »mitigate« – zeigt sich vor allem in der Diözese Salzburg.

Collin / Garot / de Groot: »Bureaucracy and Emotions«, S. 9.

Wenn ein Ansuchen in Rom abgelehnt worden war, stellte das Konsistorium wiederholt von sich aus ein neuerliches Einreichen in Aussicht – in Brixen kam dergleichen nicht vor.

»in die äußerste Betrübniß« versetzt

In beiden der skizzierten Kontexte der Abwehr unternahmen zahlreiche Paare aus der Diözese Brixen weitere Anläufe. Sie mussten darum kämpfen, dass ihr Ansuchen überhaupt oder ein weiteres Mal formuliert wurde. Manche hatten schließlich Glück, andere scheiterten. Ein extremer Fall war jener von Martin Gmeiner aus Hard in Vorarlberg und Franziska Pfleghard, seiner verwitweten Schwägerin, einer Modehändlerin und Putzmacherin aus Bregenz. Sie suchten zwischen 1827 und 1833 achtmal erfolglos um eine Dispens an und scheinen 1839 mit einem weiteren Versuch in den Akten auf.

DIÖAB, Konsistorialakten 1833, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 19 sowie 1839, Nr. 5. Die Korrespondenz zu den vorhergehenden erfolglosen Versuchen befindet sich im Akt von 1833.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sowohl die Repräsentanten der Kirche als auch die um Dispens ansuchenden Paare mit einer gewissen Vehemenz auftraten. Die Reaktionen schaukelten sich in diesem Fall auf beiden Seiten hoch. In einem Schreiben vom März 1830 hatte der Bregenzer Dekan Joseph Stadelmann gegenüber dem Konsistorium im Fall Martin Gmeiner und Franziska Pfleghard erklärt: »Mehrmal wiederholte Zudringlichkeiten, wie auch die Wichtigkeit der Gründe« hätten ihn bewogen »das Matrimonialgesuch nochmal aufzunehmen, und ehrerbiethigst vorzutragen«. Er unterstützte das Anliegen offensichtlich, verwies aber mit der »Zudringlichkeit« zugleich auf eine gewisse Bedrängnis. Die Antwort des Konsistoriums klang zwar unerbittlich, bewegte sich aber im Rahmen des üblichen Tenors. Sie lautete, dass »diese Dispense durchaus nicht erwirkt werden könne«, und an einer späteren Stelle, dass die »Bittsteller«, da ihren Wünschen »unmöglich entsprochen werden« könne, »ein für allemahl abweislich zu bescheiden« seien.

Auf neuerliche Anläufe im Jahr 1832 hin verschärfte sich die Gangart. Der Konsistorialkanzler Georg Prünster verwies auf eine Verordnung von 1807, die bestimmte, dass Paare, deren Dispensansuchen abgewiesen worden war, »von den Ortsseelsorgern nöthigen falls mittelst Anrufung des brachii saecularis« – gemeint ist ein weltliches Gericht – »von einander zu trennen« seien, »wenn sie in einem Hause wohnen« – was auf das Paar Gmeiner-Pfleghard zutraf. In ihrem achten Versuch im Herbst 1833 änderten sie die Argumentation. In einem langen, wie sich Jahre später bei ihrem neunten Versuch herausstellen sollte, von einem Advokaten verfassten Bittbrief gingen sie zur Drohung über, die sie folgendermaßen einleiteten:

Bey der regen Theilnahme, welche die Lage der Bittsteller bey der weltlichen Behörde und bey dem Publicum fand, war ihnen die Wahrnehmung höchst schmerzlich, daß ihnen bey den vom hochwürdigsten Ordinariate ausgesprochenen Aussichten jede Aussicht auf Erlangung der nachgesuchten geistlichen Dispens benommen seye.

Im Weiteren brachten sie den in diesen Jahren einzig anerkannten Dispensgrund für Eheschließungen zwischen Schwager und Schwägerin ins Spiel, nämlich eine Konversion. Auf das Schreiben ernteten sie harsche Worte aus dem Generalvikariat in Feldkirch: Ungeachtet der Abweisungen würde das Paar seine Dispensbitte »wieder zu erneuern sich getrauen«, was noch »verzeihlich« sei. Denn vielleicht seien sie »der Meinung«, dass »auf ihr wiederhohltes ungestimes Bitten […] die Gewährung jener Gnade« folge, »welche sie zu erhalten wünschen«. Nun hätten sie ihrer Bitte jedoch die Drohung hinzugefügt, »sich von der Gemeinschaft der katholischen Kirche zu trennen und in einem reformierten Orte des Auslandes die bürgerliche Aufnahme anzusuchen, damit sie in solchem ihren Wunsch, sich einander zu ehelichen, in Erfüllung bringen können«. Dies sei

»im hohen Grade tadelswürdig, nicht nur, weil sie ihre böse Absicht, durch Ausführung eines so schändlichen Beweggrundes, die ihnen bisher verweigerte Dispens eher zu erlangen, deutlich zu erkennen geben, sondern auch, weil sie dadurch eine sträfliche Geringschätzung des Glückes, ein Mitglied der wahren Katholischen Kirche zu seyn, und überdieß die noch viel sträflichere Neigung offenbaren, um ihren Eigensinn und ihre unordentlichen Begierden befriedigen zu können, den wahren Glauben zu verläugnen.«

Das Konsistorium in Brixen schrieb dem Ansinnen des Paares das »Gepräge einer muthwilligen Drohung« zu, »durch welche die gewünschte Ehedispens mehr abgetrotzt als erbethen werden« wolle und sah sich daher »durchaus nicht in der Lage, zu Gunsten der obgenannten Ehewerber beym h[ei]l[igen] Stuhle in Rom fruchtlos einzuschreiten«. Das Wort »fruchtlos« war nachträglich eingefügt worden. Sollten sie dies zum Anlass nehmen, »dem angeerbten katholischen Glaubensbekenntniße untreu zu werden«, so laste dies allein auf ihrem eigenen Gewissen.

Im Jahr 1839 beförderte der Dekan das neuerliche Ansuchen von Martin Gmeiner und Franziska Pfleghard, da er, wie er in einem mehrere Seiten langen Brief schrieb, »besonders seit letzter Zeit bestürmt« worden sei, »sich doch um Gotteswillen« für sie einsetzen zu wollen. Durch die »wiederholten Abweisungen« seien sie einerseits »in die äußerste Betrübniß u[nd] in einen Zustand völliger Hoffnungslosigkeit versetzt« worden. Andererseits fühlten sie sich nicht stark genug, die ihnen »jedesmahl gebothene Trennung auf immer zu bewerkstelligen«. Deshalb hätten sie sich im letzten Dispensgesuch – jenem von 1833 – von dem Advokaten zu der Drohung, »sich von der katholischen Kirche trennen u[nd] zu einer anderen Religionsparthey übertreten« zu wollen, verleiten lassen. »Sie versicherten nun aber hoch und theuer, daß ihnen ein solcher Gedanke ohne den sträflichen Rath dieses Mannes nie zu Sinn gekommen wäre.« Diese Bemühungen hatten zur Folge, dass der Fall den Konsistorialräten zur Begutachtung vorgelegt wurde – eine nur in diesem einen Fall dokumentierte Vorgangsweise. Ergebnis dessen war jedoch eine weitere und zugleich die letzte dokumentierte Abweisung.

Aus diesen wenigen Ausschnitten aus der Korrespondenz wird deutlich, dass alle Beteiligten mit Emotionen operierten: das um Dispens ansuchende Paar auf der Ebene der emotionalen Verfassung und auf der Handlungsebene durch das eindringliche Auftreten und Verfechten des Anliegens, der Dekan, der in diesem Fall auch der für das Paar zuständige Seelsorger war, der vermittelnd und unterstützend, aber auch als Bestürmter auftrat, das Generalvikariat und das Konsistorium als höchste kirchliche Instanzen in der Region, die in der ‚Eskalation‘ des Falles infolge des angedrohten Religionswechsels und angesichts der mangelnden Demut – ertrotzen statt erbitten – zu einer, was die Zuschreibungen an das Paar betraf, immer grundsätzlicheren ablehnenden Haltung und zu einem stark wertenden Vokabular übergingen. Die Interaktion erfolgte zwischen dem Paar und dem Dekan – das unterscheidet dessen Position von der höheren Geistlichkeit im Konsistorium. Die Art, in der er sich darstellte, war durchaus typisch. Die Geistlichen, insbesondere auf den unteren Ebenen, fühlten sich in zahlreichen Fällen von den Paaren bedrängt. Ihre Klagen über die zudringlichen und lästigen Dispenswerber und Dispenswerberinnen durchziehen das Quellenmaterial. Zugleich sahen sie sich von ‚oben‘ unter Druck gesetzt. Denn sie sollten so wenige Ansuchen wie möglich nach Brixen weiterleiten, was den alltäglichen Umgang vor Ort erschweren konnte. So klagte ein Pfarrer beispielsweise, dass eine verweigerte Dispens nur ein »schlechtes Licht auf die Vorstehung oder das Pfarramt« werfe, »als ob man den Bewerbern persönlich abgeneigt wäre«.

DIÖAB, Konsistorialakten 1863, Fasz. 22a, Römische Dispensen, Nr. 10.

Anzunehmen ist, dass sie die Klage über die sie bestürmenden Brautpaare deshalb so häufig führten, um ihren Einsatz für diese und den Umstand, dass sie deren Dispensansuchen weiterleiteten, zu legitimieren. Die in direkter Konfrontation und Interaktion mit den Brautpaaren stehenden Geistlichen konstituieren eine spezifische Gruppe in dem hier herausgearbeiteten Handlungsfeld. Sie als »emotional communities« im Sinne von Barbara Rosenwein zu denken, dürfte jedoch zu eng gefasst sein, da deren Umgang mit verwandten Paaren sehr unterschiedlich sein konnte.

Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context 1/1 (2010), S. 1–32.

»sie wollen meine Zustimmung erzwingen«

Das Zitat aus dem Titel des Beitrags – »… sie bitten, sie weinen, sie drohen« – stammt allerdings von einem höheren Amtsträger, von Joseph Feßler,

Er stammte aus Vorarlberg, hatte das Priesterseminar in Brixen absolviert, wo er später, bis 1852 seine Berufung als Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht nach Wien erfolgte, als Theologieprofessor lehrte. Im Jahr 1848 war er Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung. Nach seiner Zeit als Weihbischof von Brixen und Generalvikar von Vorarlberg 1862 bis 1865 hatte er in St. Pölten das Amt als Bischof inne. Feßler leitete zudem im Auftrag der österreichischen Regierung in den Jahren 1862 und 1863 die Verhandlungen mit der römischen Kurie zur Änderung des Konkordats, fungierte als Generalsekretär des ersten Vatikanischen Konzils und prägte insgesamt die Kirchenpolitik in Österreich nicht unwesentlich mit.

der um die Mitte der 1860er-Jahre als Generalvikar und Weihbischof in Feldkirch residierte. Wie kein anderer im ausgewerteten Quellenmaterial haderte er mit der Situation des Konfrontiert-Seins mit dispensansuchenden Paaren, vor allem in der Konstellation Cousin und Cousine ersten Grades. Seine ausführlichen Klagen sandte er auf vielen eng beschriebenen Seiten an das Ordinariat in Brixen:

Die Leute wenden alles an, sie bitten, sie weinen, sie drohen, sie kommen meistens persönlich daher und gehen mir Stunden lang nicht aus dem Zimmer, da ich sie doch auch nicht hinauswerfen kann, sie wollen meine Zustimmung erzwingen.

DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 20.

Ein grundsätzliches Problem lag darin, dass jede Dispensvergabe einen potenziellen Präzedenzfall schuf. Eine Dispens sollte per definitionem jedoch eine Ausnahme bleiben, eine Gnade – und nicht weitere Ansuchen nach sich ziehen, verbunden mit der Erwartung, dass auch diese positiv beschieden würden. Dem galt die Sorge von Vertretern des bischöflichen Konsistoriums in Brixen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zunehmend bemüht waren, konsanguine Ehen in den nahen Graden einzuschränken. Joseph Feßler machte dies bereits in den 1860er-Jahren zu seiner Aufgabe und noch mehr: Er setzte sich das Ziel, Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen in seinem Wirkungsbereich gänzlich zu verhindern. Die Vorstellung, dass diese »nicht möglich, nicht denkbar« seien, sollte sich durchzusetzen. Jede Ausnahme zu vermeiden, sei, wie er in der Kommentierung eines von drei gemeinsam in einem Akt behandelten Fällen betonte, sein »fester Vorsatz«.

DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22a, Römische Dispensen, Nr. 34.

Denn mit den Ausnahmen käme immer wieder der Verdacht auf, »heimliche Gründe« könnten im Spiel sein, was »die Gefahr des incestus« mit sich bringe. Er führte sein Dilemma konkret aus: Als er von Brixen nach Feldkirch mit der Erlaubnis zurückgekehrt sei, drei Ansuchen von Cousin-Cousinen-Heiraten für die Weiterleitung vorzubereiten, habe er so viele neue Fälle vorgefunden, dass er nicht mehr den Mut habe, die nötigen Schritte zu setzen, um die drei Fälle auch wirklich auf den Weg zu bringen. Seine Begründung war, dass er »dann den anderen nicht zu widerstehen vermocht« habe. »Denn der Hauptgrund ist immer, daß Andere es auch bekommen haben, es gehe schon, wenn man nur zahle u[nd] im Schwängerungsfall dazu auch bete

Die »Behandlung von Ehedispensen« bezeichnete er als »die schwerste« auf ihm »lastende Angelegenheit«, die ihm »nur die bittersten Erfahrungen« bescheren würde. Zur Absicherung seiner Vorgangsweise schilderte er die ihm vorliegenden, zum Teil bereits öfter abgewiesenen Fälle in seinen an das Konsistorium in Brixen gerichteten Schreiben, »um zu berathen, ob u[nd] welche anderen Mittel als die bloße Verweigerung der Dispensen in Anwendung gebracht werden könnten«. Würde er nachgeben, so seine Befürchtung, würden alle – auch die schon abgewiesenen Paare –, wieder kommen und er habe »in den meisten Fällen keine stichhaltigen Gründe, die Andern abzuweisen«, wenn er »auch nur Einen zulasse«. Würde er im einen oder andern Fall nachgegeben, würden »alle andern so heftig andringen«, dass »Widerstand nicht mehr möglich sein« würde.

DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 20.

Zwei Tage später sah er sich zuversichtlich »im Stande […], die allgemeine Verweigerung durchzuführen«, obwohl er »stufenweise heftiger bestürmt werde« und sein »Gemüth sehr darunter leide«.

DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 20.

Bezogen auf zwei andere Ansuchen sprach er etwas später wiederum von einem »schweren Kampf«, sie »beharrlich zurückzuweisen, wenn ein gereifter u[nd] sonst, wie es scheint, sehr braver Mann vor mir steht u[nd] bittet u[nd] weint wie ein Kind«.

DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 35c.

Im Konsistorium in Brixen fanden Feßlers Eifer und seine konsequenten Forderungen allerdings nicht die von ihm erwartete Resonanz.

Fazit

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob und inwieweit das säkulare Rechtssystem und staatliche Institutionen im 19. Jahrhundert einen grundsätzlich anderen Kontext als kirchliche – basierend auf dem Gnadenprinzip, auf Flehen und Bitten – dargestellt haben. Formulare und später auch Telegramme waren als bürokratische Techniken der Rationalisierung durchaus in Gebrauch. Die Performanz im direkten Kontakt, aber auch über geistliche Stellen vermittelt, wies zwar ein gewisses Spektrum an Handlungsoptionen auf. Von den um Dispens ansuchenden Paaren war jedoch eine demütige Haltung gefordert. Das Beiziehen von Juristen hat die Lage und Aussicht der Brautpaare auf eine Dispens in der Diözese Brixen durchwegs verschlimmert.

Dass dies hier – im Unterschied etwa zur Diözese Salzburg oder zum Raum Wien und Niederösterreich praktisch als Affront aufgefasst wurde, wird aus der Kommunikation zwischen dem fürstbischöflichen Konsistorium und den Dekanaten im geschilderten wie auch in anderen Fällen sichtbar. Zu Wien und Niederösterreich vgl. Saurer: »Stiefmütter und Stiefsöhne«, S. 355.

Dasselbe gilt für Drohungen. Welches Verhalten gegenüber kirchlichen Würdenträgern akzeptabel und opportun war, dürfte im 19. Jahrhundert Bestandteil von Alltagswissen gewesen sein – doch sind in der vielfach als existenziell dargestellten Situation eines vereitelten Heiratsprojekts Überschreitungen dokumentiert, die gewissermaßen ‚System‘ hatten. Dass sie »routinely encounter disturbing evidence that can provoke not just anger but disgust«,

Terry A. Maroney: »Emotional Regulation and Judical Behavior«, in: California Law Review 99 (2011), S. 1485–1555, hier: S. 1487.

dürfte nicht nur auf Juristen, die bei Terry Maroney im Fokus stehen, sondern auch auf die mit Dispensfällen beschäftigten weltlichen und kirchlichen Amtsträger vielfach zugetroffen haben. Das ungestüme Bestürmen von lokalen Geistlichen, Dekanen und im Fall von Vorarlberg auch des Generalvikars zeigte allerdings vielfach seine Wirkung, indem diese sich bereitfanden, doch (noch) einen Versuch zu unternehmen. Und immer wieder erlangten Paare dadurch erst eine Dispens. Wenn Monique Scheer danach fragt, welche Rolle »emotions play in human exchanges«, wird in Dispensverfahren deutlich, dass sie gleichermaßen die Verzweiflung wie die Forderung verstärkt transportierten und daher als Praxis interpretiert werden können – Scheer spricht von »doing emotion«.

Monique Scheer: »Are Emotions a Kind of Practice«, S. 193–195.

Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit von Paaren, die um Dispens angesucht haben, ist insbesondere für den westlichen Teil der Diözese dokumentiert, für das westliche Tirol und für Vorarlberg. Dieser Befund führt zur These, dass Hartnäckigkeit nicht nur Teil einer emotionalen, sondern situativ zugleich auch einer politischen Kultur angesehen werden kann.

Gewährt wurde Gnade, nicht Recht. Insofern sind Dispensverfahren als eine »hierarchische Ordnungsfiguration« zu erachten, die Situationen von abgestufter Macht und Abhängigkeit schuf, die zugleich aber auch in »ein komplexes Netzwerk vielfältiger sozialer Beziehungen« eingebunden war. Wenn Ute Frevert flach gedachten Netzwerkstrukturen ein »größeres Gewicht« von Gefühlen zuschreibt als hierarchisch organisierten Formationen,

Ute Frevert: »Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung«, in: Benthien / Flaig/ Kasten: Emotionalität, S. 178–197, hier: S. 183.

stellt sich die Frage, welche Gefühle dabei gemeint sind – und ob es sich nicht eher um eine Frage der Qualität als um eine Frage der Quantität handelt und immer auch um Ambivalenzen? Das Vertrauen in die Institution Kirche, als Barmherzige Mutter propagiert, wurde im Fall von abgewiesenen Dispensanfragen und -ansuchen immer wieder thematisiert, von kirchlicher Seite eingefordert, bei den abgewiesenen Paaren aber wohl grundlegend erschüttert.

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2519-1187
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Geschichte, Themen der Geschichte, Verfassungs- u. Rechtsgeschichte, Andere Themen der Geschichte, Rechtswissenschaften, Öffentliches Recht, andere, Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Kommunale Politik und Verwaltung