Spaziert man 2019 im Stadtzentrum von Sofia den schönen Witoscha-Boulevard entlang, stößt man auf einen großen Park, an dessen Ende ein riesiges Gebäude aus der sozialistischen Ära thront: Es ist der ehemalige Kulturpalast, der Ende der 1970er Jahre erbaut wurde und heute als Kongresszentrum und Konzertsaal genutzt wird. Als Bulgarien 2018 den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehatte, fanden die offiziellen Treffen in diesem Gebäude statt. Spaziert man 2019 im Stadtzentrum von Berlin den nicht weniger schönen Boulevard Unter den Linden entlang, stößt man auf ein riesiges Gebäude aus einem unbestimmten Zeitalter, das sich als Schloss aus dem 18. Jahrhundert ausgibt, ehemalige Residenz der Hohenzollern und Symbol des ‚Besten‘, was die absolute Monarchie Preußens zu bieten hatte. Doch was geht in einem Besucher vor, der seit Jahren nicht in Berlin war und sich noch an ein anderes riesiges Gebäude aus der sozialistischen Ära erinnert, das Ende der 1970er Jahre am selben Ort errichtet wurde? Er wird ungläubig seine damals aufgenommenen Fotos mit dem neuen Bauwerk abgleichen und vergeblich nach einem auch noch so kleinen Hinweisschild suchen, das ihm anzeigt, dass hier zwischen 1976 und 2006 ganz offiziell der Palast der Republik stand, und er wird vielleicht zu dem Schluss kommen, dass er einer Sinnestäuschung unterlag oder die Kameras der damaligen Zeit doch sehr unzuverlässig waren.
Sofia und Berlin: Der vergleichende Blick führt plötzlich noch einmal vor Augen, wie Teile der ostdeutschen Lebenswelt und der DDR-Geschichte einfach verschwunden sind, so als hätte diese Geschichte nie stattgefunden. Dieses „Verwischen der Spuren“ wurde in verschiedenen Untersuchungen beschrieben, auch in Frankreich, und muss hier nicht weiter thematisiert werden (u.a. Robin 2001; Combe / Dufrêne / Robin 2009; Goudin 2017). Den Sofiotern jedenfalls wurde die Zuständigkeit für diesen Teil ihrer Geschichte nicht abgesprochen und sie werden auch in Zukunft ganz allein über das Schicksal der sozialistischen Ära in ihrem kollektiven Gedächtnis entscheiden.
Dass den Ostdeutschen die Zuständigkeit für ihre Geschichte abgesprochen wurde – mancher wird denken, dass dies große Worte sind. Dennoch sollte man sich für den Umgang mit der DDR-Geschichte genauer interessieren, wenn man sich fragt, warum sich dreißig Jahre nach dem Mauerfall die innere Einheit in Deutschland noch immer nicht eingestellt hat und was die Gründe für das Unbehagen in den ‚neuen‘ Ländern sind, welches sich in einem massiven Votum für die rechtsextreme und populistische Partei AfD ausdrückt. Im Folgenden soll deshalb interessieren, wie DDR-Geschichte in der deutschen Öffentlichkeit debattiert und erinnert wird und wie ehemalige DDR-Bürger daran teilhaben können. Letztlich geht es dabei um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, wie sich der Osten in die gesamtdeutsche Gesellschaft einzubringen vermag.
Als im September 2018 der Comic
Warum muss man nun ausgerechnet diesem kaum zwei Minuten langen Bericht, der im deutsch-französischen Kulturkanal ausgestrahlt wurde, eine solche Bedeutung zumessen? Weil er stellvertretend für einen herablassenden Diskurs sowie für eine voreingenommene und einseitige Sicht auf die ostdeutsche Gesellschaft und Geschichte steht und weil er einen immer häufiger anzutreffenden historischen Relativismus vertritt. Wenn man bei jeder Gelegenheit unpräzise auf das totalitäre Paradigma zurückgreift, dann werden dadurch die Unterschiede zwischen dem Terror eines totalitären Regimes wie im Falle des Nationalsozialismus oder Stalinismus und dem Kontroll- und Überwachungsapparat einer autoritären Diktatur nivelliert.
In ihrem neuesten Buch, einer virulenten und anregenden Abrechnung mit dem vereinten Deutschland, prangert die ostdeutsche Essayistin Daniela Dahn die undifferenzierte und immer wiederkehrende Verwendung des Begriffs „totalitär“ hinsichtlich der DDR an und erinnert dabei an die Worte Hannah Arendts, die in ihrem Vorwort zur dritten Ausgabe der
Die öffentliche Erinnerung an die DDR und ihre Darstellung in Museen und Gedenkstätten ist seit langem Gegenstand von Debatten. Doch haben die immer gleichen Diskussionen bislang zu keinem wesentlichen Perspektivwechsel geführt. Denn bei den meisten Museen und Gedenkstätten handelt es sich um die ehemaligen Stätten der Macht, der Überwachung und Repression: Stasi-Museen, Gefängnisse, Berliner Mauer und Grenzposten. Diese Beobachtung machten 2006 der Historiker Martin Sabrow und die von ihm geleitete Expertenkommission, die seinerzeit für die Erarbeitung eines globalen Entwurfs zur „Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“ berufen wurde (Sabrow et al. 2007: 17–43). Der Kommission zufolge sei es notwendig, über einen solchen machtzentrierten Ansatz hinauszugehen, dem Alltagsleben mehr Raum zu geben und die individuellen Verhaltensweisen der Akteure der Gesellschaft in ihren Beziehungen zur Macht zu hinterfragen, Verhaltensweisen, die zwischen „Akzeptanz und Auflehnung, Begeisterung und Verachtung, mißmutiger Loyalität und Nischenglück“ oszillieren konnten (ebd.: 31f.). In dieser Hinsicht machte sich die Sabrow-Kommission zum Sprachrohr eines wichtigen Teils der universitären Forschung, die sich seit den 1990er Jahren von der stark von Totalitarismustheorien beeinflussten und sich ausschließlich für Institutionen und Machtstrukturen interessierenden Politikgeschichte abwendete. Es ging nunmehr darum, einer Sozial- und Alltagsgeschichte den Vorrang zu geben, die sich von der Vorstellung einer monolithischen Gesellschaft distanziert und eine Diskrepanz zwischen Herrschaftswillen und gelebter Erfahrung voraussetzt (Lindenberger 1999; Kott / Droit 2006). Die Sabrow-Kommission schlug daher vor, die „Bindungskräfte“ zu untersuchen, die es dem Regime in den 1960er und 1970er Jahren erlaubten, eine gewisse Stabilität zu erlangen. Diese „Bindungskräfte“ reichten von ideologischer Überzeugung bis hin zu Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und der wirtschaftlichen Sicherheit (Sabrow et al. 2007: 34). Diese Ansätze stellten in keiner Weise das Gedächtnis der Opfer der Repression des Regimes in Frage, sondern fügten lediglich einen Pfeiler hinzu, um die dem politischen System innewohnenden Widersprüche zum Ausdruck zu bringen. So sollte den Bürgern, die meinten, in der DDR ein „normales Leben“ geführt zu haben (Fulbrook 2008) – wohl die große Mehrheit der Bevölkerung – Raum zur Reflexion geboten und gleichzeitig eine nachträgliche Idealisierung der Vergangenheit verhindert werden.
Die Empfehlungen der Kommission wurden nicht befolgt und man warf ihr vor, die vom ostdeutschen Regime begangenen Taten zu verharmlosen. Die Stasi würde die DDR besser charakterisieren als die Kinderkrippen, so lautete das unvergessene Urteil von Horst Müller, zum damaligen Zeitpunkt Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, (ebd.: 56). Seitdem ist die Debatte nicht vorangekommen. Als sich der Politologe Klaus Christoph im Jahr 2013 noch einmal rückblickend dem Thema der Aufarbeitung der DDR-Diktatur widmet, stellt er fest, dass sich die Regierungsberichte von einer Parlamentsdebatte zur nächsten ähneln und die Erinnerungspolitik weiterhin den unmenschlichen Charakter der kommunistischen Diktatur und den Dualismus zwischen Opfern und Tätern hervorhebt. Ganz im Sinne der Sabrow-Kommission weist der Politologe darauf hin, dass sich die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung in diesem Muster nicht wiedererkennt und dass die individuellen Erfahrungen meist im Widerspruch zu dem von den politischen Instanzen vermittelten Geschichtsbild stehen. Und er verweist auf eine der möglichen Folgen dieses Mangels an Zwischentönen: die „Wiederbelebung einer problematischen Grunderfahrung des ‚gelernten‘ DDR-Bürgers“, die darin bestand, mit einer vom „SED-Apparat inszenierten Wirklichkeitsdeutung“ konfrontiert zu sein, die mit der Realität und der eigenen Erfahrung nur wenig zu tun hatte (Christoph 2013).
Im Jahr 2019 drückt sich dieses Gefühl der Diskrepanz noch auf eine andere Art und Weise aus, nämlich in einer starken Zustimmung zu einer anti-elitären und anti-demokratischen Rhetorik, in der das heutige Deutschland nicht selten mit der DDR verglichen wird. In dem kürzlich erschienenen Buch
Ein wichtiger Träger des öffentlichen Erinnerns an die DDR sind Fernsehen und Kino (Camarade / Guilhamon u.a. 2018). Wie anhand des ARTE-Beispiels bereits ausgeführt wurde, ist auch hier die Darstellung der DDR selten differenziert und kann beim ostdeutschen Publikum ein Gefühl der Fremdheit hervorrufen. In einem Interview aus dem Jahr 2016 argumentiert der ostdeutsche Filmemacher Thomas Heise, dass die Stasi das Bild der DDR zu lange dominiert habe, und dass die DDR immer noch als „monolithischer Block ohne eigene Geschichte“ wahrgenommen werde, während die Realität im Jahr 1949 oder 1989 nicht die gleiche war (Steinle 2018: 304).
Zu den Filmen, die auch im Ausland großen kommerziellen Erfolg haben, gehören Spielfilme über die Stasi, wie
Es interessiert also nicht, wie die Menschen im Alltag gelebt haben, welche Sorgen sie in der geschlossenen Gesellschaft hatten, wie ihr Verhältniss zur Macht außerhalb einer direkten Konfrontation aussah, wie sie sich mit der Situation begrenzter Freiheit und relativen Zwangs einrichteten und wo sie ihre eigenen Spielräume, ihre Freiheiten finden konnten. Gleiches gilt für die Erinnerungskultur. Die DDR war keine Kombination aus Schwarz-Weiß und allerlei Abstufungen von Grau, wie es allgemein dargestellt wird. Was dem Kassenschlager-Kino fehlt, das den Anspruch erhebt, die Vergangenheit der DDR nachzuzeichnen, ist die Darstellung eines Gedächtnisses des Alltags und der sozialen Beziehungen. Das ostdeutsche Kino selbst ist dafür eine großartige Quelle. Ob es sich dabei um Spiel- oder Dokumentarfilme handelt, die DEFA-Produktionen sind „eine unerlässliche Informationsquelle für alle, die nicht nur etwas über heutige Erinnerungen an die DDR erfahren wollen, sondern auch über eine ‚von innen gelebte‘ DDR nachdenken wollen“, wie Caroline Moine vor einiger Zeit bemerkt hatte (Moine 2006: 171).
Filme, die die DDR differenziert ‚von innen‘ zeigen, sind ebenso selten wie solche, die sich mit den sozialen Folgen der Wiedervereinigung beschäftigen. Und sie sind weit weniger sichtbar. Während Florian Henckel von Donnersmarcks erster Spielfilm
Das eigentliche Kinoereignis des Jahres war
Gundermann wird als ebenso vielseitige wie ambivalente Persönlichkeit porträtiert: ein einfacher Arbeiter im Schichtdienst, die übrige Zeit Künstler. Den Parteifunktionären gegenüber verhält er sich widerspenstig und hält dennoch an der Sache des Sozialismus fest. Aus der Partei wird er ausgeschlossen und von der Stasi, der er seine Beschwerdehefte über die Arbeitsbedingungen im Tagebau vorlegt, rekrutiert, bis diese schließlich auf seine Dienste verzichtet und ihn selbst überwacht. Als Gundermanns Zusammenarbeit mit der Stasi in den 1990er Jahren öffentlich wird, weigert er sich, das übliche Opfer-Täter-Schema zu bedienen. Genau darin besteht die Absicht des Films: auf vereinfachende Leseraster zu verzichten, endgültige Urteile abzulehnen und den ostdeutschen Biografien ihre Komplexität wiederzugeben.
Im Vorspann von Thomas Heises Dokumentarfilm
Die Mehrheit der Ostdeutschen hätte damals aber sehen können, dass sie bei der Entscheidung über ihre Zukunft und bei der Bestimmung ihrer Optionen nicht mehr allein waren. Tatsächlich, so beschreibt es der Soziologe Steffen Mau, kamen bei diesen ersten demokratischen Wahlen im März 1990 auf den „Marktplätzen der DDR […] die Hauptredner aus Westdeutschland“ – wie im Übrigen die meisten AfD-Führungskräfte heute – und die neuen unabhängigen Parteien hatten weder eine Chance gegen die von ihren westdeutschen Genossen finanzierte und unterstützte SPD bzw. CDU, die den Wahlkampf weitgehend dominierten, noch gegen die neue, auf den Trümmern der SED gegründete PDS (Mau 2019: 122). Hätten die Ostdeutschen ohne diese sehr starke und offensichtliche Einmischung anders gestimmt? Wahrscheinlich nicht. Im Rückblick ist es jedoch der Moment, in dem die Vertreter der Bürgerbewegungen, die die Demokratiebewegung und den Reformprozess in Gang gebracht hatten, ihrer Utopien, derer man sich heute kaum noch erinnert, beraubt wurden. Und es ist der Moment, in dem die Ostdeutschen begonnen haben, die Kontrolle über die Veränderungen zu verlieren, von denen sie doch in erster Linie betroffen waren. Um das heutige Wahlverhalten und das zum Teil überaus starke Ressentiment in Ostdeutschland zu erklären, ist das Problem der Abwertung von Lebenserfahrungen und der Austausch der Eliten nicht zu unterschätzen. Daniela Dahn erinnert an eine Reihe beunruhigender Beispiele, wie unfundierte Gutachten sogenannter Spezialisten, die das Ende ostdeutscher Institutionen einläuteten oder die Ablösung von Führungskräften anmahnten (Dahn 2019: 68–83). Der Soziologe Raj Kollmorgen hat eine Bilanz dieser desaströsen Entwicklung gezogen: Er schätzt, dass Ostdeutsche nur 25% der Eliten auf ihrem eigenen Territorium, also in den neuen Bundesländern, ausmachen. Was die restlichen 75% betrifft: Sie kommen aus dem Westen. Auf Bundesebene liegt die Repräsentativität von Ostdeutschen bei etwa 3% in Führungspositionen. Je höher die Position – Bundesrichter, Armeegeneral – desto weniger ostdeutsche Vertreter gibt es (Kollmorgen 2017: 57f.). Ostdeutsche sind folglich in Schlüsselpositionen der Verwaltung, Justiz, Armee, Medien, Unternehmen und Universitäten in der Minderheit. Kollmorgen betont auch das Phänomen der Selbstmarginalisierung: Im Osten geborene junge Deutsche hätten nicht einmal mehr den Ehrgeiz, wichtige Positionen zu besetzen (ebd.: 62).
Diese Situation der Nichtrepräsentanz von Ostdeutschen in den Entscheidungsgremien – Angela Merkel wird wie Joachim Gauck die Ausnahme von der Regel bleiben – führt zwangsläufig dazu, dass ostdeutsche Stimmen kaum gehört werden, was sich auch in der Wahrnehmung des Ostens im öffentlichen Raum widerspiegelt. Selbst kulturelle Orte mit einer anfangs starken ostdeutschen Identität stehen heute meist für Trends aus München, Hamburg oder London, man denke an die Debatten um die Nachfolge von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne und an das Leipziger Dokumentarfilmfestival, das seit 2004 keine aus dem Osten stammende Leitung mehr hatte. Wie der Journalist Matthias Dell bemerkt, könnte man natürlich damit aufhören, ständig auf die Herkunft zu schauen, wenn auch die entsprechenden Institutionen in Westdeutschland von Ostdeutschen geleitet würden. Aber das ist nicht der Fall (Dell 2019).
Auf Ostdeutschland lastet eine symbolische Gewalt der Nicht-Anerkennung, die mit Gleichgültigkeit und Ignoranz verbunden ist. Die meisten Westdeutschen sind letztlich vom Schicksal der östlichen Regionen kaum betroffen, so wie der Mauerfall oder die Zeit der Transformation wenig Einfluss auf ihr Leben hatten. Die Geschichte der DDR sowie die ihrer Kultur und Literatur werden heute vermutlich mehr an Universitäten in Frankreich und den Vereinigten Staaten gelehrt als in Deutschland selbst. Und über die friedliche Revolution von 1989 ist letztendlich wenig bekannt. Vielleicht wird die aktuelle politische Krise, die durch den Aufstieg der extremen Rechten in den neuen Bundesländern ausgelöst wurde, zu einem neuen Bewusstsein führen. In jüngster Zeit veröffentlichte Bücher versuchen auf jeden Fall immer wieder, den ostdeutschen Blick auf die letzten dreißig Jahre zu erklären (Engler / Hensel 2018; Dahn 2019; Mau 2019).
Im Jahr 1990 wies der Essayist Lothar Baier darauf hin, dass die Westdeutschen auf dem Gebiet der DDR einen Raum fanden, in dem sie ohne große Mühe einen Teil ihrer „versäumten Kolonialgeschichte“ nachholen konnten, ganz ohne anstrengende Eroberungszüge und ohne dafür einen hohen Preis zahlen zu müssen (Baier 1990: 105) Diese „Kolonisierungsthese“ war in der Literatur unmittelbar nach der Wende sehr präsent, verteidigt von ostdeutschen Autoren wie Volker Braun, Christoph Hein, Stefan Heym, Heiner Müller und Christa Wolf, aber auch von westdeutschen Autoren wie Günter Grass, Rolf Hochhuth und F.C. Delius (Born 2019: 94–116, 218).