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An den Grenzen der Vernunft: Beamte und ›Barbaren‹ in den Peripherien Lateinamerikas, 18.–19. Jahrhundert

   | Dec 31, 2018

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Einleitung

Die lange Zeit verbreitete Ansicht, es habe sich bei der europäischen Expansion um ein rein rationales, intellektuelles Unternehmen gehandelt, gilt heute, trotz der überwiegend materiellen Motivation dieser Überseefahrten, als weitestgehend verworfen.

Maria Nugent: »Indigenous/European Encounter«, in: Susan Broomhall (Hg.): Early Modern Emotions. An Introduction, New York 2017, S. 323–326, hier S. 323.

Die Siedlergesellschaften in Übersee wurden genau wie in Europa zu einem erheblichen Teil von öffentlichen, gefühlsbeladenen Zuschreibungen wie Scham und Ehre gesteuert.

Carol Z. Stearns: »Shame and Guilt in Early New England«, in: Carol Stearns / Peter Stearns (Hg.): Emotion and Social Change, New York 1988, S. 69–85; Zu Lateinamerika siehe Christian Büschges: Familie, Ehre und Macht. Konzept und soziale Wirklichkeit des Adels in der Stadt Quito (Ecuador) während der späten Kolonialzeit, 1765–1822, Stuttgart 1996, S. 116–120.

Alle (west-)europäischen Bevölkerungen, die nach Übersee expandierten, brachten dabei je eigene kulturelle Besonderheiten und emotionale Werte mit sich. Jede Region besaß kulturspezifische Erfahrungs- und Ausdrucksformen für Emotionen, die als »Gefühlsregime« die politische und soziale Ordnung – und mithin die koloniale Verwaltung – beeinflussten.

William M. Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S. 55.

Soziale Hierarchien wurden auch in den Kolonien von unterschiedlichen kulturellen Mustern, Wissenssystemen und religiösen Differenzen getragen. Selbst geteilte »Sicherheiten«, wie die christliche Lehre, waren emotional wie rational in eigene überkommene Erzählstrukturen eingebettet.

Donna Merwick: »Colonialism«, in: Broomhall (Hg.): Early Modern Emotions, S. 316–320, hier S. 317.

Die Zeugnisse des Adels sowie der oberen und unteren Beamten verwendeten eine »emotional getränkte Sprache«, wie es Jan Plamper ausdrückt, und geben daher einen Einblick in die inneren Verfassungen ihrer Autoren, auch wenn sie sich vordergründig mit sachlichen Themen befassen.

Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 45.

Diese Beobachtungen treffen auch auf Lateinamerika zu, wie im Folgenden herausgearbeitet werden soll. Die offizielle Korrespondenz (kolonialer) Beamter in Lateinamerika mit übergeordneten Stellen und dem Mutterland bildet dabei zusammen mit zeitgenössischen Druckschriften wie Regierungshandbüchern, Wörterbüchern und den Monografien von Ordensgeistlichen die empirische Grundlage dieses Beitrages. Der Fokus liegt auf der Einbeziehung indigener Bevölkerungen an den Randregionen in die staatliche Verwaltung. Die Fallstudien stammen überwiegend aus dem mexikanischen Nordwesten sowie aus dem südamerikanischen Cono Sur.

Das Vorhaben der Kolonialbeamten, die in Amerika angetroffenen ›Barbaren‹ zu regieren, schien von Anfang an vor besondere Schwierigkeiten gestellt zu sein, wie der Jesuit Josef de Acosta in seiner einflussreichen »Historia Natural y Moral de las Indias« (Lib. VI, Cap. XI) von 1590 darlegte, denn »es ist die Form der Regierung, in der die Barbaren am deutlichsten ihre

Barbarei zeigen.« Dem Ordensgeistlichen nach würde eine Regierung »menschlicher und weniger überheblich werden, sobald die Menschen zu mehr Vernunft (razón) gelangt sind.«

Josef de Acosta: Historia Natural y Moral de las Indias [Natur- und Moralgeschichte Amerikas], hg. von Fermín del Pino-Díaz, Madrid 2008, S. 212.

Vernunft beziehungsweise Rationalität als Voraussetzung gesellschaftlicher Grundordnung wurde im Vergleich mit den indigenen Gruppen Amerikas seit Beginn der Eroberung und bis ins 19. Jahrhundert angeführt. Die Beamten in den Peripherien Lateinamerikas bedienten sich in ihren Briefen dabei auffällig häufig bei dem Begriff des Misstrauens (desconfianza), um indigene Abwehrhaltungen zu erklären, und bezogen sich damit auf eine eng mit negativen Gefühlen verbundene soziale Einstellung. Umgekehrt sollte das »Einflößen von Vertrauen« (inspirandoles confianza) die adressierten Gruppen zu einem verwaltungskonformen Handeln bewegen.

Lasse Hölck: »A Struggle for Trust. The Comcáac (Seris) of Sonora under Colonial and Republican Rule, 1650–1850«, in: Ethnohistory 63 (2016), S. 645–669.

Vertrauen und Misstrauen sind nach der soziologischen Theorie ein Weg, die aus Informationsmangel entstandene Unsicherheit im zwischenmenschlichen Umgang zu kompensieren.

Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität, Köln 42000; Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main 1995.

Ob es sich beim Vertrauen um einen Gefühlszustand handelt oder um eine praktische Einstellung, kann an dieser Stelle nicht endgültig geklärt werden.

Ute Frevert: »Vertrauen. Eine historische Spurensuche«, in: dies. (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 7–66; Martin Hartmann: Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2011, S. 151–171.

Vertrauen und Misstrauen hat es schon immer dort gegeben, wo sich menschliches Handeln mit Risiken verband, die den Handelnden bewusst waren, weshalb beide Phänomene hier als eine Gratwanderung zwischen emotionaler und rationaler Handlungsmotivation behandelt werden.

Niklas Luhmann: »Familiarity, Confidence, Trust. Problems and Alternatives«, in: Diego Gambetta (Hg.): Trust. Making and Breaking Cooperative Relations, Oxford 2000, S. 94–107, hier S. 97–98; siehe auch Franz Petermann: Psychologie des Vertrauens, Göttingen 42013, S. 66.

Die Verwendung beider Begriffe in den Briefen aus den Peripherien gibt daher einen Hinweis auf die Grenzen, die der rationalen Verwaltungstätigkeit in diesen Regionen gesetzt waren. Die Unkenntnis und oft direkte Ablehnung gesellschaftlicher Normen zwischen Indigenen und Europäern machte eine rein rationale, das heißt informationsbasierte Wirklichkeitsbewältigung für beide Seiten im Umgang miteinander schwierig oder gar unmöglich. Gefühle mussten daher die »Lücke« füllen, die die »reine Vernunft« bei der Festlegung von Handlungen offen ließ, insbesondere wenn Entscheidungen mit einer gewissen Dringlichkeit zu fällen waren und die Vernunft notwendigerweise überforderten.

Ronald De Sousa: The Rationality of Emotion, Cambridge 1987, S. 195.

Wie Martin Hartmann ausführt, muss Vertrauen anders als Gefühle wie Angst oder Liebe stets eine »Tuchfühlung zur Realität« bewahren und erhält daher einen »affektiv ruhigeren Charakter«.

Hartmann: Praxis des Vertrauens, S. 202–203.

Für diese ethnohistorische Untersuchung von Emotionen in der Verwaltung der kolonialen Randgebiete Lateinamerikas sollen daher Vernunft und Vertrauen als Leitbegriffe dienen.

Vertrauen, Vernunft und die Verwaltung indigener Bevölkerungen

Gegenüber den indigenen Bevölkerungen fühlten sich die europastämmigen Siedler allgemein überlegen, weil sie der Ansicht waren, dass sie selbst ihr Handeln von Vernunft und Verstand (razón) leiten ließen und daher in der Lage waren, ihre Gefühle zu kontrollieren. Die unterworfenen oder noch zu unterwerfenden ›Indianer‹ galten hingegen als gefühlsgetrieben und von überkommenen Bräuchen oder Gewohnheiten geleitet.

Eric Wolf: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400, Frankfurt am Main 1986, S. 193.

Die Begegnung mit den indigenen Bevölkerungen Amerikas trug bereits wesentlich zur philologischen Ausarbeitung des spanischen Begriffs razón (Vernunft) bei. Im »Diccionario de Autoridades«, dem offiziellen Wörterbuch der spanischen Sprache, das von der Königlich Spanischen Akademie zwischen 1726 und 1739 in sechs Bänden herausgegeben wurde, wird unter dem Lemma razón in Band 5 (1737) eine unvollständige Textzeile aus der »Historia de la Conquista de Mejico« von Antonio Solis (1684) zitiert: »Es mischte sich die Freude, Indianer mit mehr Vernunft (mas razón) und besserer Sprachfähigkeit (discurso) gefunden zu haben.« Die Entdeckung sehr verschiedener, nebeneinander bestehender Gesellschaftsordnungen in Übersee verleitete zu einer Einteilung dieser Vielfalt in absteigende Stufen der Vernunft, die den entsprechenden Gruppen im Vergleich mit der spanisch-europäischen Gesellschaftsordnung zu Eigen war. Die Definition des Begriffes racional im selben Band als »essentielles Prädikat der Philosophie, das den Unterschied zwischen Mensch und Tier ausmacht« verweist darauf, dass mit der absteigenden Vernunft letztlich auch eine absteigende Menschlichkeit gemeint war. Diesen meist unsystematischen und willkürlichen Einteilungen entsprachen daher die Grade des Fremdempfindens und des Überlegenheitsgefühls, das den indigenen Bevölkerungen gegenüber gehegt wurde. Im Originaltext von Solis führt etwa die Wahrnehmung von »mehr Verstand« bei den so gekennzeichneten Bewohnern der Flussmündung des Rio Tabasco (heute Rio Grijalva) zu der

Vorstellung …, dass sie schwieriger zu besiegen wären …, weil bei einem anderen Grad von Verständnis (entendimiento) auch ein anderer Grad von Kampfesmut zu befürchten ist.

Antonio Solis: Historia de la conquista de Méjico. Población y progreso de la América septentrional, conocida por el nombre de Nueva España [Geschichte der Eroberung Mexikos. Bevölkerung und Fortschritt Nordamerikas, namentlich bekannt als Neuspanien], Madrid 1851 [1684], Lib I, Cap. VI, S. 8.

Diese im »Diccionario de Autoridades« nur angedeutete »Mischung« der Freude über die höhere Verständigkeit der angetroffenen Indianer ist also eine ebenfalls emotionale: Zu der Freude kommt unmittelbar die Befürchtung, der lokalen Bevölkerung militärisch möglicherweise nicht überlegen zu sein.

Wie sich im Laufe der Eroberungen und Erkundungen des Kontinentes allerdings herausstellen sollte, waren gerade die kleinen und mobilen Gruppen in den dünn besiedelten Peripherien viel schwerer zu unterwerfen als die großen hierarchisierten Gesellschaften.

Jürgen Golte: »Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas um 1500«, in: Friedrich Edelmayer / Margarete Grandner / Bernd Hausberger (Hg.): Die Neue Welt. Süd- und Nordamerika in ihrer kolonialen Epoche, Wien 2001, S. 41–59, hier S. 42–43.

Bis ans Ende des 19. Jahrhunderts verblieben riesige, von einer Vielzahl meist egalitär organisierter Gesellschaften bewohnte Räume in Nord- und Südamerika außerhalb staatlicher Verwaltung. Die Beziehungen zu den Bewohnern dieser Gebiete hatten indigenen Gepflogenheiten zu folgen, die mit den (spanisch-) europäischen Vorstellungen kombiniert wurden, um einen gemeinsamen Nenner der Kommunikation, einen »middle ground« zu finden.

Richard White: The Middle Ground. Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650–1815, New York 1991, S. 50–53.

Im südlichen Chile hatte sich etwa seit dem 17. Jahrhundert ein parlamento genanntes Verhandlungssystem etabliert, das für eine vertrauensbasierte Vermittlung zwischen den indigenen Gruppen der Mapuche und spanisch-mestizischen Siedlern sorgen sollte. Normierte Gegenseitigkeit (Reziprozität) stellte bei diesen Zusammenkünften ein zentrales Element dar und wurde überwiegend mit der Übergabe von »Geschenken« an die zahlreichen Anführer (lonkos) der indigenen Gemeinschaften im Austausch gegen die Duldung spanischer Siedlungen, Missionare und Händler im indigenen Territorium erreicht.

José Bengoa: La Memoria Olvidada. Historia de los Pueblos Indígenas de Chile [Die vergessene Erinnerung. Geschichte der indigenen Völker Chiles], Santiago de Chile 2004; José Manuel Zavala: Les Indiens Mapuche Du Chili. Dynamiques Inter-ethnique et Stratégies de Résistance [Die Mapuche Indianer von Chile. Interethnische Dynamiken und Strategien des Widerstands], XVIIIe Siécle, Paris 2000.

Der rituelle Charakter dieser Zusammenkünfte, bei denen jeder lonko sein Einverständnis mit den getroffenen Abmachungen durch eine längere Rede zum Ausdruck brachte, verweist auf den Ursprung der parlamentos in einer Kultur oraler Tradierung. Dem spanischen Verständnis von Verwaltung wurde hingegen durch die schriftliche Fixierung der getroffenen Abkommen in Vertragsform Genüge getan. Mit der Abhaltung eines parlamento gelang es somit beiden Seiten, die Erwartungen des Gegenübers in die eigene Selbstdarstellung einzubauen und darüber dessen Vertrauen zu erwerben.

Luhmann: Vertrauen, S. 80–81.

Möglich war diese Form institutionalisierter Aushandlungsprozesse aufgrund der relativ stabilen Führungsstrukturen bei den Mapuche, die zwar dezentral in zahlreiche patrilineare Familien aufgeteilt, aber innerhalb dieser durchaus hierarchisch organisiert waren.

Tom D. Dillehay: Monuments, Empires, and Resistance. The Araucanian Polity and Ritual Narratives, Cambridge 2007, S. 338.

Damit entsprachen sie zumindest ansatzweise den spanischen Vorstellungen einer vernünftigen Regierung, die dem damaligen europäischen Standard nach im besten Fall monarchisch zu sein hatte.

In den Peripherien Amerikas wiesen jedoch nur wenige Gruppen einen solchen Grad der Hierarchisierung auf. Noch 1804 stellten Kolonialbeamte wie der in Peru geborene Miguel Lastarria fest, dass nicht alle ›Wilden‹ gleich waren, sondern neben verschiedenen Sprachen und Kulturen auch diverse »Entwicklungsgrade der Vernunft« aufwiesen. Als Privatsekretär des Marques de Avilés hatte er während dessen Amtszeiten als Gouverneur von Chile und Vizekönig von Rio de la Plata zahlreiche Erfahrungen im politischen Umgang mit indigenen Bevölkerungen, darunter den Mapuche, gemacht. Im Vizekönigreich Rio de la Plata teilte Lastarria nun die dort ansässigen indigenen Bevölkerungen auf vierzehn Stufen in Richtung einer »erwachsenen Zivilisation« (civilización adulta) ein, welche die fünfzehnte Stufe bildete und in der genannten Region nur von den Spaniern erreicht wurde. Auf dieser Skala nahmen diejenigen Gruppen, die im Jahre 1804 noch nicht unterworfen worden waren, den »niedrigsten Grad der Rationalität« ein. Dazu gehörten etwa die Tupís, welche die Wälder am Rande der Guaraní-Missionen bewohnten, und die Charrúa in Uruguay, deren ungestrafte Raubzüge gemeinsam mit portugiesischen und spanischen Banditen »in Sichtweite der Regierung von Buenos Aires« dem Autor als große Schande (vergüenza) erschienen. Die Chiriguanos im westlichen Teil des Gran Chaco setzte Lastarria auf den zweiten Grad der Vernunft, da sie »zahm« (mansos) seien und die Zivilisation immerhin anstrebten. Die indigenen Gruppen des östlichen Gran Chaco wurden von ihm in dieser Rangfolge auf den dritten Platz gesetzt, doch »erscheinen sie unbeugsam, weil sie uns misstrauen«.

Miguel Lastarria: Colonias orientales del rio Paraguay o de la Plata. Documentos para Historia de Argentina [Die östlichen Kolonien am Rio Paraguay oder Rio de la Plata. Dokumente für die Geschichte Argentiniens], Bd. 3, Buenos Aires 1914, S. 121.

Auch die weiteren »Grade der Vernunft« speisten sich im Wesentlichen aus der Intensität des Kontaktes mit der spanisch-kreolischen Bevölkerung und dem Grad der Anpassung an die europäische Lebensform. So verliehen den indigenen Gruppen der argentinischen Pampa ihre wirtschaftlichen Austauschbeziehungen mit der spanischstämmigen Bevölkerung den vierten Grad, bevor der nächste Sprung auf den fünften Platz bei Lastarria von der Annahme des Christentums abhängig gemacht wird und die Plätze sechs bis acht mit zunehmenden Formen der Sesshaftigkeit verbunden werden. Ab Grad neun verortete Lastarria die zusätzliche Bereitschaft, Tributzahlungen zu entrichten, was seinen Ausführungen nach offenbar vor allem auf die Bewohner der ehemaligen Jesuitenreduktionen sowie der Franziskanermissionen zutraf und beim dreizehnten Grad bereits die wohlgeordneten Indianerdörfer in Peru miteinschloss. Die Dörfer der Guaraní in Paraná und Uruguay wiesen ihm zufolge von allen Indianern am ehesten die »Fähigkeit auf, aus der Kindheit der Zivilisation hervorzutreten« und nehmen den vierzehnten Platz ein, bevor Stadtwesen, Außenhandel und direkte Beziehungen zur Metropole Madrid den Siedlungen der Spanier den fünfzehnten und höchsten Platz in dieser Rangfolge steigender Rationalität zukommen ließen.

Lastarria: Colonias orientales, S. 121–125.

Wie die Ausführungen von Lastarria zeigen, legte er seinen fünfzehn Graden der Vernunft die ihm vertrauten Merkmale sozialer Organisation zugrunde. Je unvertrauter ihm die indigene Lebensweise war, desto geringer wertete er auch ihre Rationalität. Die von Luhmann postulierte Bedeutung von Vertrautheit als Voraussetzung für Vertrauen

Luhmann: Vertrauen, S. 22–24.

zeigt sich ex negativo insbesondere in dem vermerkten »Misstrauen«, das die Bewohner des östlichen Chaco von einer weiteren Rationalisierung abhalte. Entsprechend empfahl Lastarria Vertrauensgewinnung als Strategie für die Integration indigener Gruppen in die vizekönigliche Verwaltung, welche über die Schaffung von Vertrautheit durch Erlernen der indigenen Sprachen und wiederholte friedliche Begegnungen oder dauerhaftes Zusammenleben methodisch erreicht werden sollte.

Lastarria: Colonias orientales, S. 111, 396.

Da den Indigenen mit Vernunft nicht zu begegnen war, musste ihr Vertrauen gewonnen werden. Gleichzeitig barg der postulierte Mangel an Vernunft ein Risikopotenzial, der sie zu einem schwierigen Objekt des Vertrauens machte, weil jederzeit mit unkontrollierten Gefühlsausbrüchen zu rechnen war.

Rationalität als Fessel unkontrollierter Gefühle

Der Gebrauch einer affektiven Sprache und der performative Ausdruck von Gefühlen galt im politischen Leben zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht unbedingt als Zeichen unkontrollierter Passionen, sondern kam, wie Boquet und Nagy in ihrer Studie über das »sensible Mittelalter« zeigen, »begründet und berechnend« zum Einsatz.

Damien Bouquet/Piroska Nagy: Sensible Moyen Âge. Un histoire des émotions dans l`Occident medieval [Das sensible Mittelalter. Eine Geschichte der Emotionen im mittelalterlichen Westeuropa], Paris 2015, S. 88.

Emotion und Rationalität schlossen einander nicht aus, sondern ergänzten sich zum Ausdruck politischen Willens und politischer Bindungen, etwa über inszenierte Wut oder emotionale Darstellungen von Treue und Herrscherliebe. Erst seit der Aufklärung wurde die Vernunft im europäischen Gedankengut zunehmend als Fessel unkontrollierter Gefühle verstanden und ihr hinsichtlich des politischen Lebens ein Vorrang eingeräumt. Mangel an Gefühlskontrolle durch Vernunft führte aus europäischer Sicht zu falschen Entscheidungen.

Catherine Lutz: Unnatural Emotions. Everyday Sentiments on a Micronesian Atoll and Their Challenge to Western Theory, Chicago 1988, S. 60.

Diese Ansicht wurde auch auf Geschlechterverhältnisse übertragen und Frauen zumeist eine geringere Rationalität und größere Emotionalität unterstellt.

Reddy: The Navigation of Feeling, S. 288; Lutz: Unnatural Emotions, S. 73–76.

In der von der Vermischung indigener, europäischer sowie afrikanischer Kulturen und Phänotypen geprägten lateinamerikanischen Welt nahmen entsprechend ›weiße‹ Männer den gesellschaftlich höchsten Rang ein, während indigenen und afroamerikanischen Frauen die niedrigste Stellung zukam.

Peter Wade: Race and Ethnicity in Latin America, London 2010, S. 27.

Die bedeutende Rolle von Gefühlen wie Liebe und Freundschaft im politischen Gedankengut der Frühen Neuzeit erklärt sich durch den Umstand, dass Politik und Macht nicht bei einem ›Staat‹ verortet waren, wie es erst seit dem 19. Jahrhundert üblich wurde, sondern am königlichen oder fürstlichen Hof. In den spanischen Überseekolonien spiegelten die vizeköniglichen Höfe von Mexiko und Lima diese Verortung wider. Sie folgten damit einer politischen Organisation, die eine Haushaltsverwaltung zur Grundlage hatte und von Patron-Klient-Strukturen getragen wurde. Frühneuzeitliche Politik baute auf der Vasallenliebe zum Herrscher, dessen Gegenliebe sowie der dadurch gestifteten Einigkeit der Bevölkerung auf.

Auch innerhalb der kolonialen Siedlergesellschaft galt die Treue (lealtad) zum König als einigendes Band der iberischen Bevölkerungen in Übersee. Treue hebt auf ein soziales Gefühl ab, dem, anders als beim Vertrauen, eine hierarchische Konnotation zugrunde liegt.

Lasse Hölck / Stefan Rinke: »Loyalität in Übersee. Legitimierung von Herrschaft in den Peripherien des Spanischen Weltreiches, 16.–19. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 42 (2016), S. 574–591.

Die aus einer Vielzahl von Territorien ›zusammengesetzte‹ Spanische Monarchie war von personalisierten Beziehungen zwischen König, Adel und Untertanen abhängig.

John Elliot: »A Europe of Composite Monarchies«, in: Past & Present 137 (1992), S. 48–71.

Da die spanische Krone in Amerika aber seit Beginn der Landnahme eine zentralisierte Verwaltung anstrebte, wurden der Entstehung einer Aristokratie in Übersee enge Grenzen gesetzt. Dennoch bestand das Imperium neben dem gesteckten administrativen Rahmen vor allem aus einem »Bündel geschäftlicher und gefühlsmäßiger Bindungen«.

Frederick Cooper / Jane Burbank: Imperien der Weltgeschichte. Das Repertoire der Macht vom alten Rom und China bis heute, Frankfurt am Main 2012, S. 169.

Mit den sogenannten Bourbonischen Reformen des 18. Jahrhunderts verstärkten sich die Bemühungen um eine zentralisierte Bürokratie mit zeitlich ernannten, meistens aus Spanien entsandten Beamten. Durch die Entfernung zum König in Madrid und der geringen Bedeutung des Adels waren feudale Treueverhältnisse in Übersee letztlich aber weniger von Bedeutung als in Europa.

John Elliott: Empires of the Atlantic World. Britain and Spain in America, 1492–1830, New Haven 2006, S. 40, 176.

Regionale Rivalitäten innerhalb der Kolonialverwaltung verdeutlichen trotzdem die Rolle des Königs als emotionales Bindeglied zwischen konkurrierenden iberischen Bevölkerungsgruppen, die nicht nur gegenläufige Interessen vertraten, sondern auch verschiedene Sprachen aufwiesen. Diese Gegensätze lösten sich in Übersee keineswegs auf. Zuweilen war ein zu erwartender ›Hass‹ zwischen den Bewohnern einzelner Regionen der Iberischen Halbinsel, etwa dem Baskenland und Extremadura, ein triftiger Grund für Kolonialbeamte, die Versetzung von einer Region Amerikas in eine andere zu verweigern.

Juan de Vega Bazán an den Indienrat, Panama, 14. 8. 1644, Archivo General de las Indias [AGI] Panama 19, R. 11, N. 95, fol. 2r.

Zwar schuldeten alle Untertanen dem König Treue und Gehorsam, doch besaß jeder freie Untertan prinzipiell auch das Recht an den König als höchster Instanz zu appellieren. Erst mit den Bourbonischen Reformen wurde die Möglichkeit eines direkten Zugangs zum König unterbunden und eine direkte Verwaltung und finanzielle Aufsicht eingeführt. Dabei kamen auch die bislang wenig durchdrungenen Randgebiete samt ihrer unabhängigen indigenen Bevölkerungen stärker in den Blick der königlichen Verwaltung.

Cooper / Burbank: Imperien, S. 313.

Die spanische Kolonialverwaltung beschäftigte sich seit jeher mit der Bedeutung von Gefühlen für eine vernunftgeleitete öffentliche Verwaltung. Anders als in der modernen Sprechweise war dabei nicht von Emotionen die Rede, sondern von Passionen. Der Bedeutungsgehalt von pasiones (Leidenschaften) erstreckte sich jedoch gleichfalls auf Gefühle wie Liebe, Wut oder Angst. Angefangen mit dem König, der seine Untertanen liebte und wütend werden konnte, wenn sie ungehorsam waren, durchdrang das emotionale Vokabular alle Verwaltungsebenen. Königliche Gnade (clemencia, merced) wurde im Anschluss an Seneca ein Schlüsselbegriff in den Ratgebern, die von spanischen Autoren für ihre Könige verfasst wurden. Sie sollte als eine Form von Gefühlskontrolle zugleich den fürstlichen Zorn bändigen und vor zu großer Nachsichtigkeit bewahren.

Alejandro Cañeque: »The Emotions of Power. Love, Anger, and Fear, or How to Rule the Spanish Empire«, in: Javier Villa-Flores / Sonya Andrea Lipsett-Rivera (Hg.): Emotions and Daily Life in Colonial Mexico, Albuquerque 2014, S. 89–121, hier S. 103–106.

Königliche Beamte (corregidores, regidores, alcaldes etc.) konnten als Vertreter des Königs gleichfalls ungebührliche Gefühle in ihre Amtshandlungen einfließen lassen. Die »Política para corregidores« des Juristen Jerónimo Castilla de Bobadilla gab als eine Art Beamtenhandbuch Verwaltungsrichtlinien vor, an denen sich auch die Kolonialbeamten in Übersee orientieren sollten. Darin empfahl der Autor den Amtsinhabern, ihre Gefühle, allen voran die Wut (ira), zu kontrollieren, da sie »der Feind der Vernunft« ist. Im Kapitel 11 des dritten Buches ist ausführlich »Von der Friedfertigkeit und dem Zorn des Richters« die Rede. Insbesondere weisungsbefugte Beamte und Richter sollten demnach, wenn sie Zorn in sich aufsteigen spürten, Stimme und Gesichtszüge vor Entgleisungen bewahren. Ganz ohne Wut, und hier folgte Castilla aristotelischen Gedanken, ließe sich aber auch nicht gut regieren. Ein von Vernunft geleiteter Zorn sei den Richtern nämlich tugendhaft.

Jerónimo Castillo de Bobadilla: Política para Corregidores y Señores de vasallos, en tiempo de paz y de guerra y para prelados en lo espiritual y temporal entre legos, juezes de comisión, regidores, abogados y otros officiales públicos y de las jurisdiciones, preeminencias, residencias y salarios dellos y de lo tocante a las de órdenes y cavalleros dellas [Politik für Landrichter und Herrschaften, in Kriegs- wie Friedenszeiten und für Prälaten in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten bei Laien, Kommissionsrichtern, Ratsherren, Anwälten und anderen Beamten; über ihre Gerichtsbarkeiten, Privilegien, Amtssitze und Gehälter sowie deren Weisungen und Adel], Madrid 1597, Lib III, Cap. XI.

Die reziproke Liebe zwischen Herrscher und Untertan generierte der Theorie zufolge die notwendige »öffentliche Ruhe« (quietud pública), welche jedem Mitglied der Gesellschaft die Sicherheit gab, die es für sein Wohlergehen benötigte.

Cañeque: »Emotions of Power«, S. 97–98.

»Einheit und gegenseitige Liebe zwischen König und Vasallen« bildeten die Festigkeit des Königreiches, schlussfolgerte der Jesuit Andrés Mendo in seiner Aufsatzsammlung »Der vollendete Fürst und gut eingestellte Minister« (Principe perfecto y Ministros Ajustados).

Andrés Mendo: Principe Perfecto y Ministros Ajustados. Documentos Políticos y Morales en Emblemas [Der vollendete Fürst und gut eingestellte Minister. Politische und Moralische Dokumente in Sinnbildern], Leon de Francia 1662, Doc. X, S. 52.

Dass solche Liebe in Hass umschlagen konnte, beschäftigte die politischen Denker aber auch in Spaniens ›Goldenem Zeitalter‹. Aufstände und Unruhen wurden als emotionale Unstetigkeit interpretiert und insbesondere den unteren sozialen Klassen oder – im Kolonialreich – den indigenen und afroamerikanischen Bevölkerungen zugeordnet. Emotionale Instabilität galt als kindlich und wurde auf eine Unfähigkeit zur rationalen Gefühlskontrolle zurückgeführt.

Cañeque: »Emotions of Power«, S. 99–100.

Diese Ansicht übertrugen Beamte wie Missionare auf die indigenen Bevölkerungen in Spanisch-Amerika und gaben damit ihrer Vormundschaft über sie Ausdruck.

Bernd Hausberger: »Die Mission der Jesuiten im kolonialen Lateinamerika«, in: ders. (Hg.): Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Macht und Kulturtransfer seit dem Mittelalter, Wien 2004, S. 79–102, hier S. 93.

Im Zuge der Aufklärung wurden schließlich Unvernunft und Irrationalität auch als Ursache des Wahnsinns angesehen.

Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969.

Die liberalen Gedanken des ›Zeitalters der Vernunft‹ verbreiteten sich hingegen nur langsam in Spanien und seinen Überseekolonien, wo sie von einem restriktiven Politikverständnis und einem strengen Katholizismus eingehegt wurden.

Antonio Sáenz-Arance: »Kritik, Krise und politische Impotenz. Hispanische Aufklärungen in der alten und neuen Welt«, in: Alexander Kraus / Andreas Renner (Hg.): Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, Frankfurt am Main 2008, S. 29–45.

Der politische Diskurs über Gefühle orientierte sich auch im 18. Jahrhundert an der christlichen Affektenlehre eines Thomas von Aquin oder Augustinus von Hippo.

Zur Affektenlehre siehe Thomas Dixon: From Passions to Emotions. The Creation of a Secular Psychological Category, Cambridge 2006.

Vernunftgeleitetes Handeln, emotionale Mäßigung und Sinn für Moral blieben allerdings in allen Kolonialreichen ein selbst zugeschriebenes Merkmal der Europäer, die sich entsprechend inmitten irrationaler und unmoralischer Bevölkerungen mit einem Hang zu emotionalen Überreaktionen wähnten. Britische, französische und holländische Beamte identifizierten ungebührliche, sexuelle Ausschweifungen nur bei den kolonisierten Völkern selbst und kontrastierten deren scheinbare Lüsternheit mit europäischer Vernunft sowie den »Instinkt der Eingeborenen« mit europäischer Selbstdisziplin.

Ann Laura Stoler: Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley, Calif. 2002, S. 6, 157.

Die Grenzen der Vernunft: (Kolonial-)Verwaltung an der Peripherie
Bürokratie durch Vertrauen

Die Vorgehensweise der Kolonialherren war seit Beginn der europäischen Expansion darauf angelegt, eine Vertrautheit mit der ›Neuen Welt‹ herzustellen und die Unerfahrenheit mit den Überseegebieten wurde durch eine Einordnung in die eigene Erfahrungswelt, etwa durch vertraut klingende Namen wie Nueva España oder Nueva Galicia, kompensiert. Solche Namensgebungen produzierten im Kontext der Entdeckungen und Eroberungen eine Art von »affektiver Geografie«, die sich auf den erstellten Landkarten niederschlug.

Nugent: »Indigenous/European Encounter«, S. 325.

Diese systematisch geschaffene Vor-Vertrautheit verflüchtigte sich jedoch spätestens nach Ankunft in den entlegenen Regionen, und die Verzweiflung der Beamten und Missionare über die Nutzlosigkeit ihrer erlernten Regierungsweisen bedingte einen expressiven Rekurs auf Gottvertrauen und Königstreue, mit dem die entstandene Verunsicherung kompensiert werden sollte. Doch der gemeinsame Glaube an die eigene Vernünftigkeit bot den Beamten vor Ort nur wenig Halt, wenn sie den indigenen Gruppen gegenübertraten. Da der Dienst in den Randregionen allgemein eher als Strafe galt, war auch die Verwaltung in diesen Gebieten mit besonderen emotionalen Ansprüchen verbunden. Oftmals wurden verurteilte Verbrecher in die peripheren Regionen abkommandiert, wo sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens die Siedlungen gegen feindliche ›Eingeborene‹ verteidigen sollten.

Lasse Hölck: Kampf um Vertrauen. Die Comcáac von Sonora (Mexiko) unter kolonialer und republikanischer Herrschaft, 1650–1850, Stuttgart 2014, S. 255; Augusto V. de Viana: In the far Islands. The Role of Natives from the Philippines in the Conquest, Colonization, and Repopulation of the Mariana Islands, 1668–1903, Manila 2004, S. 2.

Auch Priester, die sich etwas zu Schulden hatten kommen lassen, mussten ihre Missionsarbeit bei aufständischen indigenen Gemeinschaften in den Randgebieten aufnehmen.

Stuart F. Voss: On the Periphery of Nineteenth-Century Mexico. Sonora and Sinaloa, 1810–1877, Tucson 1982, S. 59–60.

Die meisten Bevölkerungsgruppen des Spanischen Kolonialreiches waren nicht als patrimoniale Herrschaften organisiert, sondern auf Grundlage egalitärer verwandtschaftlicher Beziehungen. ›Indianer‹, wie die Europäer die von ihnen in Amerika angetroffenen Menschen nannten, regelten ihre kollektiven Sachverhalte zumeist persönlich, im direkten Austausch miteinander. Eine unpersönliche Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten, wie sie durch einen behördlichen Schriftverkehr möglich wird, kannten sie nicht. Außerhalb der Bevölkerungszentren wie dem Hochtal von Mexiko und dem Andenraum waren dann auch hoheitliche Regierungsweisen gänzlich unbekannt und wurden heftig abgelehnt. Für die Kolonialherren war dieser Mangel an Verwaltungssinn von fehlender Vernunft bedingt und ein Hindernis dabei, ihre auf Herrschaft basierten Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Miteinander durchzusetzen. Die Annäherung der indigenen Gruppen an die Spanier war deshalb von einzelnen Personen abhängig, denen sie Vertrauen entgegenbringen konnten. Sobald die Vertrauensperson abgezogen oder versetzt wurde, was sowohl bei Missionaren wie auch bei Militärs alle paar Jahre geschah, endete auch das Vertrauensverhältnis der Indigenen zu den Neuankömmlingen aus Europa.

José Luis Mirafuentes Galván: »Colonial Expansion and Indian Resistance in Sonora. The Seri Uprisings in 1748 and 1750«, in: William B. Taylor / Franklin Pease (Hg.): Violence, Resistance, and Survival in the Americas. Native Americans and the Legacy of Conquest, Washington 1994, S. 101–123, hier S. 117–118.

Das hierarchische Regierungssystem der kolonialen Missions- und Militärverwaltung war somit periodisch für eine empfindliche Störung der lokalen Verwaltungsebene verantwortlich. Dieser Umstand wurde von einigen Missionaren selbst beklagt, die sich zudem während ihrer befristeten Dienstzeiten in einer Mission außerstande sahen, die Sprache der indigenen Bevölkerung zu erlernen.

Padre Alejandro Rapicani: Briefe an den Padre Provincial Christobal de Escobar und Padre Ignacio de Arzeo, Baserac, 13. 12. und 31. 12. 1744, Archivo Histórico de Hacienda, Mexico, Temporalidades, Leg. 278, Nr. 017.

Das Vertrauen, das sich einzelne Amtsträger über persönliche Bindungen innerhalb der indigenen Gruppen verschafft hatten, konnte nicht, wie es etwa der Begriff des »Sozialkapitals« impliziert, auf die jeweiligen Nachfolger übertragen werden.

Zu Vertrauen als Sozialkapital siehe Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital, Kulturelles Kapital, Soziales Kapital«, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198; Robert Putnam: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993.

Vertrauensgewinnung wurde von den Missionaren im Umgang mit unabhängigen indigenen Gruppen methodisch angewandt. Als der Jesuitenpater Salvatierra 1709 mit einer Expedition an die Küste des Golfes von Kalifornien (Sonora, Mexiko) gelangte, um ein gestrandetes Schiff wieder seetauglich zu machen, traf er auf die dort lebenden Wildbeutergruppen der »Seris« (Eigenbezeichnung Comcáac). Der Padre bemühte sich ausdrücklich, ein gegenseitiges Vertrauen herzustellen: Anstatt mit den anderen Expeditionsmitgliedern an Bord des gestrandeten Schiffes zu übernachten, blieb Salvatierra an Land bei den dort neugierig lagernden Seris, um ihnen gegenüber »Vertrauen zu zeigen« (mostrar confianza). Daraufhin beobachtete er, dass die Seris sein Vertrauen mit gleicher Münze zurückzahlten, denn in den folgenden Tagen kamen sie »…mit so großem Vertrauen und Sicherheit…« (con tanta confianza y seguridad) zu seiner Lagerstätte, dass sie sich dem Gottesmann zufolge nicht einmal mehr von dem bewaffneten Begleitschutz der Expedition einschüchtern ließen.

Luis González Rodríguez: »Juan Maria Salvatierra y los seris, 1709–1710«, in: Estudios de Historia Novohispana 17 (1997), S. 229–262, hier S. 238, 252–253.

Sein Vorhaben war schließlich von Erfolg gekrönt, und er empfahl seine vertrauensbildende Vorgehensweise für andere Unternehmungen dieser Art weiter.

Innerhalb der Verwaltungsebenen erklärte man sich auch die Konfliktursachen zwischen Indigenen und Spaniern als eine Frage des persönlichen Vertrauens zwischen einzelnen Beamten und den indigenen Gruppen ihres Verwaltungsbereiches. Angesichts eines gewaltsamen Aufstandes der Seris zwischen 1748 und 1750 lieferten sich die in dieser Zeit nacheinander verantwortlichen spanischen Regenten des Bezirks, Inspektor Rodriguez Gallardo und Gouverneur Ortiz Parilla, einen verbalen Schlagabtausch, in dem einer dem anderen vorwarf, durch Fehlentscheidungen das »Vertrauen« (confianza) zu den Indianern gebrochen und ihr »Misstrauen« (desconfianza) erregt zu haben: »…[N]ach meinem Abschied von [Sonora]«, zitierte der Vorgänger Gallardo seinen Nachfolger Parilla in einer über hundert Seiten langen Polemik,

hätten das Misstrauen und der Argwohn der Indianer abgenommen. Aber wenn sie [das Misstrauen und der Argwohn] danach aufgehört haben, später aber wieder neu belebt wurden, …. wird vielmehr ein neuer Vorfall dazu geführt haben, das Misstrauen herzustellen oder den Argwohn zu wecken.

Bonilla (1795), in: Archivo General de la Nacion (Mexico) [AGN], Provincias Internas [PI] 176, Exp. 4, fol. 163r.–v.

Da beide Beamten durch willkürliche Verhaftungen und brutale Strafexpeditionen gleichermaßen die Beziehungen zu den unabhängigen Seris zerrüttet hatten, erscheint ihr gegenseitiger Vorwurf des Vertrauensbruches müßig. Allerdings verweist ihre Streitschrift auf das Bewusstsein in höheren Verwaltungsebenen, dass das legitime königliche Mandat zu regieren auf lokaler Ebene in persönliche Vertrauensverhältnisse zu der indigenen Bevölkerung übersetzt werden musste, um ein konfliktarmes interethnisches Verhältnis zu etablieren.

Verwaltung und Vernunft

Seitdem zu Beginn des 18. Jahrhunderts die französische Dynastie der Bourbonen die zuvor regierenden Habsburger in Spanien abgelöst hatte, sollten die Kontrolle über die amerikanischen Territorien und der Zugriff auf ihre Ressourcen verbessert und ausgebaut werden. Im spanischen »Zeitalter der Erkenntnis« (Siglo de las Luces) strebte die Metropole eine Rationalisierung der Kolonialverwaltung zum eigenen Nutzen an. Insbesondere während der Regentschaft von Carlos III. (1759–1788) wurden diejenigen Körperschaften, die staatliche Funktionen ausübten und damit dem administrativen Ideal eines ›aufgeklärten Absolutismus‹ im Wege standen, aufgelöst oder zumindest geschwächt. Die spektakulärste Maßnahme der spanischen Krone stellte in diesem Zusammenhang die Ausweisung des Jesuitenordens aus den spanischen Besitzungen im Jahre 1767 dar. Davon waren insbesondere die Regionen betroffen, die aufgrund des hartnäckigen Widerstands der dort lebenden indigenen Bevölkerung als Paradebeispiel der frontier gelten, wie der chilenische Süden und der mexikanische Norden. Der mexikanische Vizekönig de Croix formulierte das Ansinnen der bourbonischen Kolonialverwaltung 1767 in einem häufig zitierten Satz mit deutlichen Worten:

[E]in für alle Mal müssen die Untertanen des großen Alleinherrschers auf dem spanischen Thron begreifen, dass sie geboren sind, um den Mund zu halten und zu gehorchen und weder um ihre Ansichten noch ihre Meinungen in die hohen Angelegenheiten der Regierung einzubringen.

»de una vez para lo venidero deben saber los subditos del gran monarca que ocupa el trono de España que nacieron para callar y obedecer y no para discurrir ni opinar en los altos asuntos del gobierno«, zitiert in Ignacio del Rio: La Aplicación Regional de las Reformas Borbonicas en Nueva España. Sonora y Sinaloa, 1768–1787 [Die regionale Durchführung der Bourbonischen Reformen], México 1995, S. 10.

Das politische Programm der Bourbonischen Reformen war darauf angelegt, im Einklang mit den in Europa kursierenden Ideen eines aufgeklärten Absolutismus die Königstreue als Regierungsprinzip in der Kolonialverwaltung nachhaltig zu verankern und die Verwaltung der Kolonien auf die Interessen der Krone zurechtzuschneiden. Wie den Äußerungen des Vizekönigs zu entnehmen ist, war eine Beteiligung der regierten Bevölkerung(en) an der Formulierung von Zielen und Umsetzung dieser Reformen nicht vorgesehen. Stattdessen sollten mit der Verschickung zahlreicher Fragebögen, die von lokalen Beamten zu beantworten waren, diejenigen Informationen eingeholt werden, die für eine Ausarbeitung der Reformen vonnöten schienen.

Bernd Hausberger: »Reformiert, modernisiert und ruiniert. Lateinamerika«, in: ders. / Jean-Paul Lehners (Hg.): Die Welt im 18. Jahrhundert, Wien 2011, S. 124–152, hier S. 142.

Zu den einflussreichsten Ergebnissen dieser Initiative zählten die Noticias secretas de América der aus Spanien entsandten peninsulares Jorge Juan und Antonio de Ulloa, die in den 1730er- und 1740er-Jahren Ecuador bereist hatten. In ihrem Bericht hielten die Autoren fest, dass die »Indianer allem zuneigen, was der Irrationalität eigen ist« und meinten damit vor allem die Faulenzerei (ociosidad) und Idolatrie.

Jorge Juan / Antonio de Ulloa: Noticias secretas de América. [Geheime Nachrichten aus Amerika] Bd. 2, Madrid 1918 [1748], S. 33.

Ulloa und Juan sorgten jedoch auch für eine Aufwertung der indigenen Vergangenheit des Andenraumes in den Augen der Kolonialherren, indem sie die Gesetzgebung und Verwaltung der Inka als »vernunftgeleitet« beschrieben. Insbesondere die Einbindung zahlreicher kleiner naciones in das Reich erschien ihnen bewundernswert und zur Nachahmung empfohlen.

Nur der ein oder andere Fall kleiner, sehr barbarischer Völker, die wie die wilden Tiere in der Natur leben, versuchte das Joch des Reiches abzuschütteln, um frei von jeder Vernunft zu bleiben.

Juan / Ulloa: Noticias, S. 83.

In den weitläufigen Grenzgebieten, wie dem mexikanischen Norden oder dem Cono Sur, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ganz erschlossen wurden, galten insbesondere diejenigen Bevölkerungsgruppen, die wechselnden Residenzmustern folgten oder sich einer Unterwerfung zur Wehr setzten, als ›irrational‹ und wurden entsprechend gente sin razón (»Menschen ohne Vernunft«) genannt.

David J. Weber: The Spanish Frontier in North America, New Haven 1992, S. 307.

Sie sollten zu einem »rationalen Leben« (vida racional) im Sinne der Kolonialregierung erst erzogen werden:

»Bevor sie Christen werden können, müssen wir erst vernunftgeleitete Menschen [hombres racionales] aus ihnen machen«, hieß es etwa in Bezug auf die Bevölkerungen am Rio de la Plata in Südamerika,

Zitiert in David J. Weber: Bárbaros. Spaniards and their Savages in the Age of Enlightenment, New Haven 2005, S. 93.

und ein Festungskommandant im nordwestmexikanischen Sonora urteilte angesichts der schlichten Behausungen der Missionsindianer, dass »ihre Wohnungen eher für Tiere geeignet sind als für Vernünftige [racionales]…«.

Joséf de Tona [ohne Adressat], Pitic, 1. 1. 1794, AGN IV, Misiones Caja 4463, Exp. 43, fol. 1r.– v.

Der Vorwurf mangelnder Vernunft wurde also zuweilen an reinen Äußerlichkeiten festgemacht und stellte dabei, wie im »Diccionario de Autoridades« definiert, die Menschlichkeit der so bezichtigten Bevölkerungen infrage.

Die Einteilung in »Menschen der Vernunft« und »Menschen der Gewohnheit« wurde zudem an der fehlenden Schriftlichkeit Letzterer festgemacht. Deutlich wird diese Gegenüberstellung in den Worten des Bischofs von Concepción (Chile) 1784 im Zusammenhang mit den Mapuche der Araucania im Süden Chiles. Die Mapuche verfügten über einen ad mapu genannten, mündlich überlieferten Codex, der generelle soziale Verhaltensregeln und materielle Strafen für unsoziales Verhalten wie Mord, Raub oder Ehebruch festlegte. Die fehlende schriftliche Fixierung verleitete den Bischof jedoch dazu, diesen Codex außerhalb der ihm vertrauten Sozialordnung und damit auch außerhalb des gesteckten Rahmens der Vernunft zu verorten:

Der Ad Mapu gründet auf nichts anderem als der Überlieferung, die von einem zum anderen verbreitet wird. Damit wird die Gewohnheit [costumbre] ihrer Altvorderen zum Leitbild der Politik, anstelle der … rechtmäßigen Folgerungen aus der Vernunft.

Zitiert in Rolf G. Foerster: Introducción a la religiosidad mapuche. [Einführung in die Religiosität der Mapuche], Santiago de Chile 1993, S. 32, 39.

Mit den parlamento-Treffen konnte jedoch, wie oben angeführt, eine vertrauensbasierte Aushandlung zwischen den ungleichen Nachbarn organisiert und eine »Eroberung der Freundschaft« angestrebt werden.

Mónika Contreras: »Die Eroberung der Freundschaft. Indios amigos, Fuertes und lokale Regierungsweisen am Río Bueno, 1759–1796«, in: Stefan Rinke / Mónika Contreras / Lasse Hölck (Hg.): Regieren an der Peripherie. Amerika zwischen Kolonien und unabhängigen Republiken, Stuttgart 2011, S. 113–140.

Dennoch wurden die Mapuche als ›irrational‹ eingestuft.

Die »Unvernunft« der Indianer hatte schließlich auch eine zeitliche Dimension, da man ihnen jegliche Fähigkeit zur Antizipation absprach und eine entsprechende »Kindlichkeit« oder »Rückständigkeit« anlastete.

Jarquín Ortega / María Teresa (Hg.): Vida indígena en la colonia. Perspectivas etnohistóricas. [Alltag der Indigenen zur Kolonialzeit. Ethnohistorische Perspektiven], Zinacantepec, Estado de México 2016.

Im Umkehrschluss leitete sich daraus unmittelbar eine Rechtfertigung des spanischen Herrschaftsanspruchs ab, wie der Franziskanerpater Fray Barbastro 1793 in Bezug auf die indigenen Gruppen von Sonora (Mexiko) zusammenfasste:

Solange der Indianer nicht friert, denkt er nicht an Kleidung; solange er nicht hungert, sucht er keine Nahrung. Daraus folgt, dass der Indianer jemanden braucht, der ihn regiert, mit straffen Zügeln und von Zeit zu Zeit mit Schlägen. Ohne dies verbleibt er in seiner gewohnten Faulheit, nutzlos für den Staat wie für sich. Er ist unfähig, sich selbst gut zu regieren.

Fray Barbastro an Revilla Gigedo (Jr.), Aconchi, 1. 12. 1793, AGN PI 33, fol. 536.

Materielle Bedürfnislosigkeit und Indifferenz gegenüber den Errungenschaften der europäischen Zivilisation auf Seiten der Indigenen verkomplizierten den Versuch der Beamten, sie in ihr Regierungssystem zu integrieren ebenso, wie die Unvertrautheit der Beamten mit den sozialen Verhältnisse innerhalb der indigenen Gruppen. Auf der Verwaltungsebene überwog daher der Versuch, egalitäre Gesellschaften und solche mit nur gering ausgeprägten (›flachen‹) Hierarchien dem europäischen Verständnis von sozialer Ordnung anzupassen.

Juan Carlos Garavaglia: »The Crises and Transformations of Invaded Societies. The La Plata Basin (1535–1650)«, in: Frank Salomon (Hg.): The Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Cambridge 1999, S. 1–58.

Man erwartete etwa, dass künstlich eingeführte soziale Schichtungen den indigenen Anführern die nötige Autorität zukommen lassen würden, um die Anweisungen von staatlichen Akteuren in ihren Gemeinschaften durchzusetzen. Gouverneure, Missionare, Militärs und andere Beamte bemühten sich dazu um eine finanziell-materielle Unterstützung derjenigen indigenen Kontaktleute, die sie als Anführer innerhalb der ethnischen Gruppen etablieren wollten. Deutlich wird dieser Versuch am Beispiel der offiziellen Landverteilung in einer Mission für die Seris 1772. Während zum einen nur die Männer eine Landparzelle zugewiesen bekamen, wurde den ernannten indigenen Amtsträgern, wie etwa dem »Gouverneur« oder dem capitán, ein dreifacher beziehungsweise doppelter Landbesitz zugewiesen.

»Instrucción que ha de observarse para el establecimiento de los Yndios reducidos de la Nación Seri en las inmediaciones del presidio del Pitic, Real de los Álamos, 29. 8. 1772« (Pedro Corbalán), AGES, FE T. 15, Exp. 15, fols. 011386–011393. Eine Version dieser Instruktion ist transkribiert in Thomas Sheridan: Empire of Sand. The Seri Indians and the Struggle for Spanish Sonora, 1645–1803, Tucson 1999, S. 427–431 sowie in Flavio Molina Molina: Historia de Hermosillo antiguo, Hermosillo 1983, S. 101–106.

Damit sollte die egalitäre soziale Organisation der Jäger und Sammler dem angepasst werden, was den Europäern vertraut war und mithin als ›vernünftig‹ angesehen wurde: eine vertikale Befehlsstruktur auf Basis einer Gesellschaftsordnung, deren Hierarchie von ungleichen Besitzverhältnissen getragen wurde. Indigene Autoritätsstrukturen, die nicht auf ökonomischen oder militärischen Zwangsmechanismen aufbauten, wurden als ›mangelnde Unterordnung‹, irrational oder als gänzlich abwesend abgetan. Dem Anthropologen Tim Ingold zufolge bauen die egalitäre soziale Organisation sowie die Wahrnehmung der Natur als giving environment in Wildbeutergruppen wie den Seris auf Vertrauen auf, während Landwirtschaft und soziale Hierarchien, wie sie den Spaniern geläufig waren, eine Form von Herrschaft (domination) über Umwelt und Menschen darstellen.

Tim Ingold: »From Trust to Domination. An Alternative History of Human-Animal Relations«, in: ders.: The Perception of Environment. Essays on Livelihood, Dwelling and Skill, London 2000, S. 61–76, hier S. 69.

Nicht wenige Beamte, die neu in die entlegenen Regionen kamen, scheiterten an der fehlenden Vertrautheit mit den gegebenen Umständen und ihrem mangelnden Verständnis für andere Lebensweisen. Einige von ihnen verloren sogar vorübergehend den Verstand.

Die Fremdartigkeit der nordmexikanischen Region in klimatischer wie sozialer Hinsicht trieb etwa José de Gálvez, aufgeklärter Modernisierer des Kolonialreiches als Generalinspekteur des Königs, in die geistige Umnachtung. In den Plänen des Visitador Jóse de Gálvez dienten die nördlichen Provinzen Neuspaniens als eine Art Laboratorium, wo er seine Reformvorhaben persönlich durchzuführen gedachte.

Del Rio: La Aplicación, S. 15; Luis Navarro Garcia: Don José de Gálvez y la Comandancia General de las Provincias Internas del Norte de la Nueva España, Sevilla 1964, S. 157–160.

Im Januar 1768 erarbeitete er zusammen mit dem Vizekönig einen Plan zur Gründung einer zivilen und militärischen Verwaltungseinheit, die unter dem Namen Comandancia General de las Provincias Internas Occidentales den Großraum Nordwestmexiko (Baja California, Sonora, Sinaloa und Nueva Vizcaya) umfassen sollte.

Del Rio: La Aplicación, S. 64.

Auf seiner Visite zwischen 1769 und 1771 erließ er dann eine Unmenge an Regelungen, mit denen der Großraum Nordmexiko regierbar gemacht werden sollte. Aber die »Modernisierungsfantasien des Funktionärs«, wie der Historiker Hernández Silva gnadenlos zusammenfasst, »stießen auf die krude Wirklichkeit des [mexikanischen] Nordens und verwandelten sich in Wahnsinn, Albernheit und totales Scheitern.«

Héctor Cuauhtemoc Hernández Silva: La expedición del Visitador José de Gálvez al Septentrión Novohispano (1768–1770) o La locura de la modernidad [Die Expedition des Inspektors José de Gálvez in den Norden Neuspaniens oder Der Wahnsinn der Moderne], Hermosillo 2000, S. 22. Auch der klassische Biograf Gálvez’ in Neuspanien hielt fest, dass »alle Projekte [von Gálvez] als Luftschlösser (castillos en el aire) erscheinen«, Navarro Garcia: Don José de Gálvez, S. 158.

Der visitador war ein ehrgeiziger Mann und wollte seiner bis dahin schon beeindruckenden Karriere im Staatsdienst mit der Organisation einer effektiven Verwaltung des Nordens von Neuspanien eine weitere Krone aufsetzen. Doch die »rohe Wirklichkeit« der Region holte ihn bald ein. Schon kurz nach seiner Ankunft brach in der von Indianerkriegen geprägten Region ein weiterer indigener Aufstand aus, während die Begleiter des visitadors zunehmend beunruhigt den Zustand ihres Vorgesetzten notierten. Die Anwesenheit dieses Señor Grande in Sonora beeindruckte die kriegerischen Gruppen, doch der hoch in der kolonialen Hierarchie stehende Visitador ließ sie kein Vertrauen fassen, denn seine Macht erweckte eher ihre Furcht. Mehrere Familienverbände der Pima und Seri, die sich zuvor zu einer Auslieferung an die Spanier bereit erklärt hatten, zogen sich nach Ankunft von José de Gálvez wieder zurück.

Pineda an José de Gálvez, Pitic, 29. 5. 1769, transkribiert in Domingo Elizondo: Noticia de la expedición militar contra los rebeldes Seris y Pimas del Cerro Prieto, Sonora, 1767–1771 [Bericht von der militärischen Expedition gegen die Rebellen der Seris und Pimas im Cerro Prieto], hg. von José Luis Mirafuentes Galván y Pilar Máynez, México 1999, App. 2, S. 99.

Nach zwei Wochen Beratungen in der Festung von Pitic (heute Hermosillo) mit den Hauptleuten über die militärischen Maßnahmen gegen die Krieger der Seri und Pima war Gálvez mit den Nerven am Ende. In den frühen Morgenstunden des 14. Oktobers 1769 rief der visitador einen Sergeant zu sich und teilte ihm mit, dass ihm in der Nacht Franziskus von Assisi erschienen war, um ihm einen Rat zu erteilen. Dem Heiligen zufolge wären die indigenen Krieger innerhalb von drei Tagen zu besiegen, wenn man sechshundert Affen aus Guatemala in Soldatenuniformen steckte und sie gegen die Rückzugsorte der Indianer ausschickte. Mit diesen Worten ließ Gálvez den verdutzten Sergeant stehen, begab sich unter die Soldaten im Lager und schüttelte ihnen unter beständigen Freundschaftsbekundungen die Hände. In dieser denkwürdigen Nacht gab der visitador noch die Anweisung, jedem Soldaten eine beliebige Summe aus den Expeditionsmitteln auszuzahlen. Beim gemeinsamen Mahl mit den Hauptleuten drohte er den Anwesenden – einschließlich seines Oberst Domingo Elizondo – mit dem Scheiterhaufen, wenn sie es wagen sollten, seine Weisungen auch nur zu kommentieren. Während seiner wochenlangen Nervenkrise war der visitador nur schwer dazu zu bewegen, sich überhaupt einzukleiden, ernannte willkürlich dahergelaufene Siedler zum Gouverneur von Sonora und hielt sich abwechselnd für den König von Preußen, von Schweden oder für den Aztekenfürsten Moctezuma. Am 25. Oktober 1769 wurde Gálvez zurück nach Ures transportiert, wo er Erholung finden sollte, doch bis zum Februar 1770 wiederholten sich seine Anfälle. Nach seiner Genesung gelang es ihm dank seiner Beziehungen, die Vorfälle weitestgehend zu vertuschen.

Hernández Silva: La Locura de la modernidad, S. 31–35.

Das Monopol der Kolonialherren auf vernunftgeleitetes Handeln war, wie dieses prominente Beispiel zeigt, auch in den Randgebieten mehrfach gebrochen.

Der Mangel an Kenntnis und Verständnis führte nicht zuletzt auch dazu, dass über die unabhängigen Indianer viele Gerüchte im Umlauf waren, die den Einfluss negativer Gefühle und Misstrauen auf politisches und Verwaltungshandeln veranschaulichen. Oberst Elizondo, der von 1769 bis 1771 eine großangelegte Kampagne gegen die Pimas und Seris in Sonora führte, musste feststellen, dass die vor Ort eingeholten Informationen über die indigenen Gruppen unzutreffend waren, was die Durchführung seiner Aufgabe anfangs behindert hatte. »Die Indianer sind nicht solche Idioten, wie man mir sagte«, stellte er nüchtern fest, nachdem ihm die konsultierten Militärs offenbar mehr über ihr eigenes Überlegenheitsgefühl berichtet hatten als über den zu bekämpfenden Gegner.

Elizondo: Noticia, S. 26.

Meist steckt hinter Gerüchten

…ein Vorgang kollektiver Problemlösung in unsicheren Situationen, in denen übliche Kommunikationskanäle zusammenbrechen, nicht existieren oder [ihnen] nicht vertraut werden kann.

Dan. E. Miller: »Rumor. An Examination of Some Stereotypes«, in: Symbolic Interaction 28 (2005), S. 505–519, hier S. 508.

Gerüchte sind demnach Hinweise auf kollektive Gefühlszustände des Misstrauens und der Angst, die einer als antagonistisch wahrgenommenen (Nachbar-)Gruppe schlechte Absichten oder Taten unterstellen. Als solche leiten sie auch das Handeln von Verwaltungsbeamten in die Irre. Als die Spanier militärische Engpässe bemerkten, da sie es in Sonora gleichzeitig mit mehreren marodierenden Indianergruppen der Apachen, Pima und Seris zu tun hatten, die in der Umgebung kleinere Überfälle durchführten, beschwor Kommandant Bautista de Anza das Horrorszenario einer indigenen Allianz dieser drei Sprachgruppen herauf und erklärte sich heroisch bereit, sein Leben für die Niederschlagung dieses vermeintlich panindianischen Aufstands zu geben. Zudem verwarf er jegliche Politik der Einbeziehung gegenüber den Indianern angesichts ihrer »Untreue, Undankbarkeit, Neigung zum Diebstahl und Wankelmut« als »nutzlos«. Aufgrund dieser Eigenschaften, die seines Erachtens von den Indianern nicht zu trennen waren,

verdienten sie ihre totale Auslöschung, die uns, wie ich mir sicher bin, der Herr der Heere gewähren wird, um sie für ihre andauernde Abtrünnigkeit bezahlen zu lassen.

Bautista de Anza an Comandante General Teodoro de Croix, San Miguel de Horcasitas, 7. 7. 1777, AGI Guadalajara 515, 2a carta, N° 32, fol. 2v.–3r.

Im Anschluss an seinen schriftlichen Wutausbruch musste Bautista de Anza aber noch am selben Tag feststellen, dass sich sein Urteil als voreilig herausstellte. Die registrierten Überfälle waren nicht mit einer vorherigen Absprache der genannten Gruppen in Verbindung zu bringen, schrieb er seinem Generalkommandanten Teodoro de Croix.

Bautista de Anza an Teodoro de Croix, San Miguel de Horcasitas, 7. 7. 1777, AGI Guad. 515, N° 31, fol. 1r.

Um zu einer politischen Entscheidung zu gelangen und geeignete Anweisungen zu geben, hatten Vorgesetzte wie in diesem Beispiel zunächst einmal die Gefühlslagen ihrer Untergebenen aus den Berichten herauszufiltern, wenn sie nicht daneben liegen wollten. Auch im Zeitalter effizienter Bürokratie und aufgeklärter spanischer Despoten Ende des 18. Jahrhunderts führten die Verwaltungsstrukturen nicht einfach von der Regierung zu den Regierten oder vom Zentrum in die Peripherie. Der Indienrat reagierte ebenso pragmatisch auf den Druck einzelner kolonialer Machthaber. Wenn es um die Beziehungen zu den ›Barbaren‹ ging, bevorzugten lokale Beamte mal den Krieg und mal den Frieden. »Wenn sie schwankten«, so der Historiker David Weber, »schwankte die Krone mit ihnen«.

Weber: Bárbaros, S. 154.

Gegenüber unbotmäßigen indigenen Gruppen setzten dabei auch die höheren Kolonialbeamten, je nach Persönlichkeit, auf direkten Terror. Entgegen der spanischen Ratgeber erschien das Einflößen von Angst als Regierungsmethode gegenüber diesen Gruppen als probates Mittel und wurde oftmals auch von übergeordneten Verwaltungsebenen wortwörtlich so angeordnet.

Bucareli y Ursúa an Crespo, México 7.9.1773, AGN PI 81, fol. 527r; Bucareli y Ursúa an Julian Arriaga, México, 26. 9. 1773, AGI Guad. 513, fols. 1366–1373.

Felipe de Neve, Nachfolger von de Croix als Generalkommandant der Provincias Internas, ordnete etwa Ende des 18. Jahrhunderts eine öffentliche Hinrichtung von einigen rebellischen Tarahumaras (raramuri) an, die bereits im Gefängnis saßen: Sie wurden erhängt, gevierteilt, enthauptet, und ihre Köpfe öffentlich zur Schau gestellt.

Weber: Bárbaros, S. 144–145.

Das Kalkül der lokalen Amtsträger, durch Abschreckung zukünftige Aufstände unterbinden zu können, ging jedoch nur selten auf. Langfristig behinderten die Einschüchterungen, die als Regierungsmechanismus gegenüber den Indianern eingesetzt wurden, den Aufbau von Vertrauensbeziehungen auf lokaler Ebene.

»Mit Vernunft oder Gewalt«: Beamte und ›Barbaren‹ nach der Unabhängigkeit

An dem Gegensatz zwischen »Vernunftmenschen« und »Gewohnheitsmenschen« wurden auch noch lange nach den Unabhängigkeitsbewegungen und Republikgründungen die Unterschiede zwischen der europastämmigen Bevölkerung der Kreolen und ›Indianern‹ festgemacht, die es mithilfe einer vernunftgeleiteten, rationalen Verwaltung zu überwinden galt.

Miguel Alberto Bartolomé: Gente de costumbre y gente de razón. Las identidades étnicas en México [Menschen der Gewohnheit und Menschen der Vernunft. Die ethnischen Identitäten Mexikos], México D. F. 32006.

Auf Seiten der Kolonialmacht hatte ein strukturell bedingtes Kommunikationsproblem in Bezug auf die unabhängigen indigenen Gruppen bestanden. Die lokalen Akteure waren in ihren Entscheidungen von den Anweisungen der oberen Kolonialverwaltung abhängig, die ihrerseits den aus der entlegenen Provinz überstellten Informationen ihrer Beamten vertrauen musste. Die dabei anfallende Masse an Dokumenten war aber insgesamt kaum zu bewältigen, sodass sich Krone und Indienrat überwiegend auf verkürzte Zusammenfassungen verließen, um eine handlungsorientierte Anweisung zu formulieren. Wie gesehen, kam es dabei oft zu verzerrten Darstellungen, die von den negativen Gefühlen der Akteure vor Ort geprägt waren und die schließlich auf die Entscheidungsträger in der Metropole abfärbten.

Mit dem Übergang zur unabhängigen Republik und damit zur lokalen Selbstverwaltung schien dieses Problem überwunden und der Aufbau eines lokalen Vertrauensverhältnisses möglich. Gerade für transitorische Regierungssysteme gilt jedoch wegen der Einführung neuer (und daher unvertrauter) Regierungsformen eine kritische Vertrauenslage. Das neu eingeführte republikanische System brachte daher auf lokalpolitischer Ebene einen inflationären Gebrauch des Begriffes »Vertrauen« (confianza) als Leitmotiv gesellschaftlicher Ordnung mit sich.

Laura Marie Shelton: For Tranquility and Order. Family and Community on Mexico’s Northern Frontier, 1800–1850, Tucson 2010, S. 97f.

Die nach der Unabhängigkeit an die Macht gelangende Elite musste stets um das Vertrauen der kreolischen Bürger in ihre Regierungsweisen werben. Dabei zeigte sich der Zeitgewinn, den Vertrauen für die Regierung bedeutet, als entscheidender Faktor für die staatlichen Beamten.

Siehe dazu Luhmann: Vertrauen, S. 74–75.

Das Werben um Vertrauen wurde daher rhetorisch mit der Aufforderung verbunden, »ruhig abzuwarten« (esperar tranquilos) und sich in Erwartung einer kommenden Regierungsentscheidung »auszuruhen« (descansar). Dies galt in besonderem Maße für die Einbeziehungsmechanismen, die den indigenen Gruppen gegenüber zur Anwendung kamen und deren Effektivität von Teilen der Bürgerschaft stark bezweifelt wurde. Der »tumultuöse Charakter« indigener Bevölkerungen in Lateinamerika wurde noch lange nach der Kolonialzeit beklagt und die Herstellung von öffentlicher Ordnung als »Beruhigung« aufständischer indigener Gruppen angesehen.

Peter F. Guardino: »›El carácter tumultuoso de esta gente.‹ Los tumultos y la legitimidad en los pueblos oaxaqueños, 1768–1853« [„Der tumultuöse Charakter dieser Leute”. Tumulte und Legitimität in den Dörfern von Oaxaca], in: Brian Connaughton (Hg.): Poder y Legitimidad en México en el Siglo XIX. Instituciones y cultura política [Macht und Legitimität im Mexiko des 19. Jahrhunderts. Institutionen und politische Kultur], México 2003, S. 181–205.

Von den Indigenen wurde aber die Regierung der Kreolen ebenso wie die der Spanier als Fremdherrschaft empfunden und die Aufgabe des Vertrauenserwerbs stellte sich den verantwortlichen Beamten mit derselben Dringlichkeit wie zur Kolonialzeit.

Zur Enttäuschung der kreolischen Eliten dehnte sich die legitimierende Kraft der Unabhängigkeitsbewegung nicht auf die indigene Bevölkerung aus, denn die (kolonial-)herrschaftlichen Forderungen nach »Gehorsam« (obediencia) und Unterordnung (subordinación, sujeción) bestanden weitestgehend unverändert weiter. Im Jahre 1835 analysierte ein Festungskommandant und Politiker in Sonora, dass sich für die indigenen Gruppen seit der Unabhängigkeit nichts geändert hatte. Sie lebten in demselben Elend wie zuvor, litten unter Enteignungen und Landbesetzungen und waren Missbräuchen der Gemeindepriester ausgesetzt, während sich die vom Staat eingesetzten Mittelsmänner wie zur Kolonialzeit an ihnen bereicherten. »Und ist es da verwunderlich«, fragte er in einer weit verbreiteten Denkschrift über seinen Heimatbezirk,

dass [die indigenen Gruppen] dem Glücksfall, eine eigene Regierung zu haben, gegenüber gleichgültig geblieben sind? Haben sie das spüren und kennenlernen können?

Ignacio Zuñiga: Rapida ojeada al Estado de Sonora [Rascher Blick auf den Staat von Sonora], Hermosillo 1985 [1835], S. 114.

Wie diese Stelle deutlich macht, wurde emotionale Gleichgültigkeit von der Verwaltung als ähnlich problematisch wahrgenommen wie eine ›tumultuöse‹ Dorfbevölkerung. Emotionale Indifferenz verweist auch im interethnischen Zusammenhang auf eine Entfremdung

Lutz: Unnatural Emotions, S. 58–59.

und der Umstand, dass indigene Gruppen die Begeisterung der Kreolen für die Lossagung von Spanien nicht teilten, war für ihre beabsichtigte Einbeziehung genauso hinderlich wie ein wütender Aufstand.

Republikanische Beamte gaben regelmäßig an, den verschiedenen Bevölkerungsgruppen des beanspruchten Territoriums »vernünftige« Gründe zu nennen, warum sie nun Staatsbürger einer neu geschaffenen Nation sein sollten. Friedensverhandlungen mit unabhängigen indigenen Gruppen wie den Seris wurden nach wie vor unter der Vorgabe geführt, ihnen »Vertrauen einzuflößen« (infundirles confianza), wie es ein Präfekt in Sonora 1848 ausdrückte.

José Elias an den Gouverneur, Hermosillo, 30. 10. 1848, Archivo Historico General del Estado de Sonora [AHGES], Ramo Prefecturas [RP], T. 190, Noviembre, Nr. 1, fol. 1v.

Die Geduld der Amtsträger mit der Akzeptanz ihrer Vorstellungen unter den indigenen Gruppen erschöpfte sich jedoch ebenso schnell wie zur Kolonialzeit. Derselbe Präfekt, der den Seris Vertrauen einflößen wollte, urteilte nur einen Monat später:

Diese wandernden Stämme folgen, ohne in ihren plumpen Bräuchen irgendeinen [landwirtschaftlichen] Anbau zu betreiben, ihren brutalen Instinkten und nicht denjenigen, die die menschliche Natur den Vernünftigen einhaucht.

José Elias an den Gouverneur, Hermosillo, 1. 12. 1848, AHGES, RP, T. 190, Diciembre, Nr. 3, fol. 1r.–1v.

Zeitgleich mit diesen Aussagen des Präfekten formierte sich eine aus Bürgern zusammengesetzte junta de guerra gegen die Bevölkerung der Seris und forderte ihre totale Auslöschung mit der Erklärung, es seien

…alle Mittel der Politik und Vernunft versucht [worden], um sie zu einem zivilisierten und friedlichen Leben zu bringen, ohne dass dies ein weiteres Ergebnis gezeitigt hätten, als ihren Stolz über ihre Straflosigkeit anschwellen zu lassen.

Pablo Rubio an den Gouverneur, Hermosillo, 17. 10. 1848, AHGES, RP, T.190, Octubre, Nr. 10, fol. 5v–6r.

Gegen Ende des Jahrhunderts hatten die anhaltenden Strafexpeditionen schließlich die Bevölkerung der Seris auf wenige Hundert Individuen dezimiert.

Im republikanischen Chile wurde das Motto »Mit Vernunft oder Gewalt« (por la razón o la fuerza) auf dem Staatswappen und, über Münzprägung, auch numismatisch verewigt. In Bezug auf die indigenen Bevölkerungen war dieses eigentlich rechtsstaatliche Motto allerdings wörtlich gemeint: Bei mangelndem Verständnis seitens der indigenen Gruppen, welches an ihrem Ungehorsam und Widerstand festgemacht wurde, kam im diskursiv verbreiteten, politischen Repertoire nur noch Gewalt als Maßnahme infrage.

Paulina Peralta: »Ni por la razón, ni por la fuerza. El fallido intento del Estado Nacional por incorporar a los pueblos Mapuche y Pehuenche (1810–1835)« [Weder mit Vernunft noch mit Gewalt. Der gescheiterte Versuch des Nationalstaates, die Völker der Mapuche und Pehuenche zu integrieren], in: Revista de Historia Social y de las mentalidades 13/1 (2009), S. 55–85.

Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte der anti-indigene Diskurs in Chile einen ersten Höhepunkt und entlud sich in hassgetränkten Pamphleten, die einem Interessenausgleich zwischen Mapuche und Chilenen die Berechtigung nehmen sollte:

Jetzt ist der Moment gekommen, den Feldzug gegen diese hochmütige und blutrünstige Rasse [der Mapuche] ernsthaft in Angriff zu nehmen, deren bloße Anwesenheit in diesen Landstrichen eine pulsierende Gefahr … darstellt.

o. A.: »Los bárbaros de Arauco«, in: El Mercurio, 1. 11. 1860, zitiert in Jorge Pinto: »Ein Land ohne Indigene. Chile 1830–1930«, in: Rinke / Contreras / Hölck: Regieren an der Peripherie, S. 141–180, hier S. 157.

Je nach persönlicher Ausrichtung und Neigung konnten Staatsbeamte auf eine solche Rhetorik zurückgreifen.

In der politischen Praxis führte die Annahme einer ›Unvernunft‹ indigener Verhandlungspartner aber auch zu der Erkenntnis, dass zwischenmenschliche Vertrautheit eine Vorbedingung für eine vertrauensvolle Beziehung zu den indigenen Gruppen darstellte. Die chilenische Regierung sollte daher vorzugsweise »ältere Militärs« in die Araukania entsenden, die

aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit dem indigenen Charakter die am schnellsten wirksamen Mittel kennen, um das Vertrauen [der Indigenen] zu erlangen… Denn der Auraukaner ist stets zugänglicher, vertraut und respektiert eher den Worten, die aus dem Munde eines älteren Mannes stammen, umso mehr, wenn er unter ihnen bekannt ist und Prestige genießt.

o. A.: »Crónica nacional. Parlamento con los indios«, in: El Ferrocarril, 13. 11. 1861, S. 2.

Doch die auch an dieser Stelle ausgedrückte Ungeduld, mit der Vertrauen hergestellt und die Mapuche zur Vernunft im Sinne der staatlichen Regierung gebracht werden sollten, stand einem einvernehmlichen Interessenausgleich im Wege. Der chilenische Süden wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich mit Gewalt erobert.

Leonardo León: La Araucanía: La violencia mestiza y el mito de la »Pacificación«, 1880–1900 [Araukanien. Mestizische Gewalt und der Mythos der „Befriedung”], Santiago, Chile 2005.

»Der abgrundtiefe Sozial- und Kulturkonservatismus der hispano-amerikanischen Oberschicht« fasst Antonio Sáenz-Arance etwas polemisch zusammen,

erklärt nicht nur ihre ununterbrochene Verschmelzung mit der katholischen Kirche, sondern auch ihr Scheitern (zunächst im Kontext der Aufklärung, dann in dem des republikanischen Liberalismus) an der Kernfrage der politischen Partizipation indigener und farbiger Bevölkerungsteile.

Sáenz-Arance: »Kritik, Krise und politische Impotenz«, S. 46.

In Bezug auf die Randgebiete Lateinamerikas konnte, wie gesehen, eine Einbeziehung indigener Gemeinschaften über Vertrauensbildung durchaus erreicht werden. Eine Anerkennung indigener Lebensweisen in Form von Wertschätzung blieb jedoch weitestgehend aus, wie die Zuschreibungen von Vernunft und Unvernunft zeigen, und belastete das Verhältnis zwischen indigenen Gruppen und Mehrheitsbevölkerungen in Lateinamerika bis heute mit gegenseitigem Misstrauen.

Zusammenfassung und Schluss

Mit dem Diskurs über Rationalität versuchten sich die Beamten in Übersee seit Beginn der Kolonialzeit die Selbstsicherheit zu verschaffen, die es für einen Herrschaftsanspruch gegenüber den indigenen Bevölkerungen bedurfte. Gerade in Hinsicht auf die kleineren, oftmals egalitär organisierten Gruppen außerhalb der Bevölkerungszentren Lateinamerikas wurden die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsordnungen an den Zuschreibungen „Vernunft“ und „Unvernunft“ festgemacht. Der Begriff der Vernunft erlebte dabei eine Ausweitung, die letztlich nur wenige Bereiche ausließ. ›Vernünftig‹ war es nicht nur, der Verwaltungsautorität zu gehorchen, sondern auch alles andere auf möglichst europäisch-spanische Weise zu tun, wie etwa die Belehrungen bezüglich Bekleidung und Ernährung zeigen. Im lateinamerikanischen Beamtenvokabular spitzte sich diese Wahrnehmung in den Bezeichnungen »Vernunftmenschen« für diejenigen, die den kulturellen Mustern der Eroberer folgten, und »Menschen ohne Vernunft« oder »Menschen der Gewohnheit« für diejenigen, welche den indigenen kulturellen Mustern folgten, zu. Die im Zeichen der europäischen ›Aufklärung‹ eingeführten Bourbonischen Reformen änderten daran ebenso wenig wie der Systembruch der Republikgründungen nach 1810. Im Zuge der jeweils folgenden Erschließung vormals undurchdrungener Gebiete wurde die Dichotomie Vernunft und Unvernunft auf die dort unabhängig lebenden Bevölkerungen projiziert und damit allein flächenmäßig und demografisch ausgeweitet. Das vermeintliche Fehlen von Vernunft wurde dabei weit über die Kolonialzeit hinaus nicht nur als Rechtfertigung für die Herrschaftsambitionen, sondern auch für einen Einsatz rücksichtsloser Gewalt angeführt. Dass sich die Beamten selbst bei der Einbeziehung indigener Gruppen in die Verwaltung von Gefühlen leiten ließen, angst-inspirierten Gerüchten Glauben schenkten und zuweilen den Verstand verloren, wurde dabei kaum reflektiert.

Mit ihrem Verweis auf Vertrauen und Misstrauen drückten die Beamten hingegen ihre aus Fremdempfinden entstandene Unsicherheit im Umgang mit anderen Kulturen aus, ohne unbedingt eine eigene Überlegenheit zur Sprache zu bringen. Die Vertrauensgewinnung als Verwaltungsmaxime gegenüber indigenen Gruppen in den Randgebieten überbrückte dabei auf theoretischer Ebene die im europäischen Gedankengut vollzogene Trennung zwischen Rationalität und Emotionalität, weil sie auf beide gleichermaßen abhob und über die systematische Herstellung von Vertrautheit und Gegenseitigkeit einen Ausgleich zu schaffen versprach. Die Vertrauensbeziehungen zu den indigenen Gruppen waren jedoch persönlicher Natur und an einzelne Beamte gebunden. Ein generalisiertes oder System-Vertrauen, z. B. gegenüber staatlichen Institutionen, entstand dabei nicht. Brüche in den Verhältnissen auf lokaler Ebene, etwa durch Personalwechsel, wurden von den Indigenen als Vertrauensbrüche wahrgenommen und erhielten darüber eine emotionale Komponente, die die interethnischen Beziehungen als Ganzes infrage stellten.

Letztendlich erscheint die Selbstbestimmung, die indigene Gruppen in den Randgebieten vor einer Vereinnahmung durch staatliche Verwaltung verteidigten und bis heute verteidigen, als das rational wie emotional nachvollziehbare Anliegen, die eigene Gemeinschaft und ihre Werte gegenüber einer technisch-materiell und numerisch überlegenen Nachbargesellschaft zu erhalten. Die dabei notwendigerweise entstehenden Konflikte waren über die Jahrhunderte hinweg nicht dadurch zu lösen, dass man die ›Indianer zur Vernunft‹ brachte. Interethnische Spannungen konnten jedoch durch den Aufbau zwischenmenschlichen Vertrauens abgebaut werden. Es liegt nahe zu vermuten, dass dies auch in der Gegenwart so ist.

eISSN:
2519-1187
Language:
English