Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Krankheiten überhaupt und werden in den nächsten Jahren vor allem in den Industrieländern an Bedeutung zunehmen (Lopez, Mathers, Ezzati, Jamison, & Murray, 2006). Mit der Krankheit geht eine negative Wahrnehmung und Verarbeitung von Gedanken und Situationen (kognitionstheoretisches Erklärungsmodell nach Beck, vgl. Hautzinger, Stark, & Treiber, 1994) und eine erschwerte Alltagsbewältigung mit Einschränkungen hinsichtlich der Komponente „Aktivitäten und Partizipation” der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit einher (ICF, 2005, Cieza, Chatterji, Andersen, Cantista, Herceg, Melvin, Stucki, & de Bie, 2004).
Analog zu den multidimensionalen Einschränkungen erfolgt die Therapie der Depression ebenfalls multimodal: Neben pharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung kommen soziotherapeutische Angebote zum Einsatz, beispielsweise in Form von Ergo-, Kunst-, Musik-, Tanz-, Bewegungs- und Sporttherapie.
Ein geringes psychiatrisch-wissenschaftliches Interesse an der Soziotherapie kontrastiert jedoch bislang mit der praktischen Bedeutung dieser Therapieform: Es liegen auch international kaum Studien vor, welche den Beitrag der Ergotherapie bei der Behandlung von Depressionen untersuchen, obwohl sie in psychiatrischen Institutionen einen prominenten Platz im Rahmen der multimodalen Therapie einnimmt (Reuster, 2006). Sie ist in nahezu allen psychiatrischen Kliniken in der Schweiz und in Deutschland ein etabliertes Angebot und spielt quantitativ in der Behandlung psychiatrischer Patienten/-innen eine weitaus grössere Rolle als beispielsweise die psychologischen Therapien (Kunze und Kaltenbach, 1996). Die Ergotherapie leistet zudem per Definition einen spezifischen Beitrag zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Alltag der Betroffenen (WFOT, World Federation of Occupational Therapists, 2012), doch wurde dieser bislang kaum spezifisch erforscht (Reuster, 2006; Schene, Koeter, Kikkert, Swinkels, & McCrone, 2007).
In einer randomisierten kontrollierten Studie führte ambulante Ergotherapie bei Menschen mit unipolarer Depression zusätzlich zur ambulanten Routinebehandlung dazu, dass die Patienten/-innen im Mittel drei Monate früher, häufiger und länger ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten. Allerdings konnte durch die zusätzliche Ergotherapie keine schnellere Symptomverbesserung gebahnt werden (Schene et al., 2007). Reuster (2006) fand in seiner randomisiert-kontrollierten Effektivitätsstudie zur ergotherapeutischen Gruppenbehandlung im stationären psychiatrischen Setting im Vergleich zu einer Placebo-Kontrollgruppe, dass vor allem affektiv Erkrankte von der Intervention profitieren. Weitere Studien konstatieren für die Ergotherapie bei Depression eine hohe subjektive Akzeptanz und damit einen hohen Beitrag zur Patienten-/innen- und Angehörigenzufriedenheit (vgl. z. B. Ziemann, 2002). Fraglich bleibt aber bislang, ob und wie die Ergotherapie aus Sicht der Patienten/-innen einen effektiven Therapiebeitrag auch im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Alltagsaktivitäten leistet, welche Faktoren als hilfreich erachtet werden oder ob sie die Patienten/-innen eher mit Tätigkeiten von Hobbycharakter in der Behandlungszeit unterhält (Häfner, 2000).
Ziel der vorliegenden Studie ist es daher, unter Zuhilfenahme qualitativer Methoden zu rekonstruieren, welchen spezifischen Beitrag die Ergotherapie für Menschen mit Depression innerhalb der Behandlung in einer psychiatrischen Tagesklinik leistet.
In dieser Arbeit werden die Begriffe „Handlung”, „Betätigung“ und „Aktivität“ synonym verwendet und beschreiben ein bewusst ausgeführtes, zielgerichtetes Verhalten. Für „Occupation” haben sich im gesamten deutschen Sprachraum die beiden Begriffe Handlung und Betätigung als Synonyme eingebürgert (Stadler-Grillmeier, 2007). Alle hier verwendeten Begriffe beinhalten keine Interpretation der Bedeutung für die Betroffenen und sind damit für Ergotherapeuten/-innen und andere Professionsangehörige in gleicher Weise verständlich.
Die vorliegende Untersuchung basiert auf leitfadengestützten Interviews (N = 10), die im Rahmen des Projektes „Den Alltag bewältigen, trotz Depression“ mit Patienten/-innen einer psychiatrischen Tagesklinik der Schweiz zu Beginn und am Ende der Behandlung durchgeführt wurden. Die Gesamt-Studie verfolgte zwei Fragestellungen:
Welche Probleme in den Aktivitäten des täglichen Lebens werden von Menschen mit Depression zu Beginn und am Ende einer teilstationären Behandlung benannt? Welchen Beitrag leistet die Ergotherapie für die Patienten/-innen im Rahmen einer multimodalen, teilstationären Therapie?
Die vorliegende Arbeit behandelt ausschließlich die zweite Fragestellung. Die Studie wurde von der kantonalen Ethikkommission Zürich bewilligt (KEK-ZH-Nr. 2012-0088).
Die beiden leitfadengestützten Interviews (Lamnek, 2005) zu Beginn und am Ende der Therapie eruierten sowohl die Ausgangslage in Bezug auf die Alltagsbewältigung der Betroffenen als auch die Situation zu Therapieende. Dies ermöglichte ein gezieltes Vertiefen personenspezifischer Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Verlauf der Ergotherapie. Es wurden zwei Interviewleitfäden entwickelt, die sich aus der Fragestellung und dem theoretischen Hintergrund des Canadian Model of Occupational Performance, CMOP (CAOT, 1997) ableiteten (vgl. zweiter Leitfaden im Anhang). Dieses Modell beschreibt drei Bereiche der Betätigungs-Performanz, die im Blickpunkt ergotherapeutischer Interventionen stehen. Diese Bereiche sind Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit, die wiederum durch das Individuum mit seinen physischen, geistigen, spirituellen und soziokulturellen Komponenten und seiner Umwelt beeinflusst werden. In den Interviews wurden die Teilnehmer/-innen gebeten, einen typischen Tagesablauf vor Aufnahme in die Tagesklinik zu beschreiben und es wurden alle Bereiche der Betätigungs-Performanz eruiert. Ebenfalls wurden die Patienten/-innen bei Therapieende gebeten, ihren „neuen“ Tagesablauf bei Aufenthalt zu Hause darzulegen. Weiterhin wurde eine Bewertung der erfahrenen ergotherapeutischen Leistung erbeten und so zugleich Wissen zum Prozessverlauf und der erlebten Effekte der Ergotherapie generiert.
Innerhalb einer Pilotbefragung mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitenden der Hochschule und im Anschluss daran mit einer Patientin der Tagesklinik wurden der Prä- und Post-Interviewleitfaden auf Praktikabilität, Verständlichkeit und Vollständigkeit sowie auf Fragenabfolge-Passung untersucht. Die Formulierung wurde nochmals angepasst, um die Fragen so konkret wie nötig, aber so wenig suggestiv wie möglich zu formulieren. Zudem wurden fakultative Nachfragen formuliert, falls die gegebenen Antworten nicht alle benötigten Angaben abdeckten.
Die Erhebung zu Therapiebeginn erfolgte ein bis zwei Wochen nach Aufnahme in die Tagesklinik. Die zweite Erhebung, auf der die vorliegenden Ergebnisse beruhen, fand eine Woche vor der Entlassung statt. Die Therapiedauer differierte individuell, je nach Symptomatik und lag zwischen drei und neun Monaten. Zur Durchführung der Interviews wurde eine unabhängige Interviewerin (wissenschaftliche Mitarbeiterin der ZHAW) eingesetzt, die nicht in den Behandlungsprozess involviert war. Alle Prä- und Post-Interviews wurden in Einzelinterviews in den Räumen der Tagesklinik durchgeführt, aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert.
Die Ein- und Ausschlusskriterien wurden im Vorfeld wie folgt definiert: Eingeschlossen wurden Patienten/-innen der Tagesklinik für Affektkranke mit depressiver Symptomatik nach ICD-10 mit ausreichenden Deutschkenntnissen, um den Interviewfragen folgen und diese beantworten zu können. Ausgeschlossen wurden Patienten/-innen, deren Aufenthaltsdauer in der Tagesklinik weniger als vier Wochen betrug und die eine inkonstante Therapieteilnahme (eine Teilnahme von unter 65 % der geplanten Therapiefrequenz) aufwiesen.
Das Vorgehen bei der Auswertung der Interviews zu Therapiebeginn und am Therapieende lehnt sich an die Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) an. Zur Assistenz und Dokumentation der inhaltsanalytischen Auswertung wurde das Computerprogramm ATLASti in der Version 7.0.83 verwendet.
In einem ersten Schritt wurden die Transkripte in Anlehnung an das dem Interviewleitfaden zu Grunde liegende CMOP (CAOT, 1997) deduktiv ausgewertet: Die Interviewaussagen wurden den Kategorien Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit zugeordnet. Definitionen und Kodier-Richtlinien wurden theoriegeleitet festgelegt und mit Ankerbeispielen versehen.
In einem zweiten Schritt wurden weitere, induktiv gebildete Kategorien entweder unter bereits bestehende Kategorien subsumiert oder zu neuen Kategorien abstrahiert. Hierbei waren vor allem der Beitrag der Ergotherapie und die Frage, welche Hilfestellungen und Strategien der Ergotherapeutin hilfreich gewesen sind, leitend. Dabei wurde wegen nicht vorhandener theoretischer Vorannahmen ein induktives Vorgehen gewählt. Chronologisch dem Textmaterial folgend, wurden die im Hinblick auf die genannten leitenden Forschungsziele wesentlichen Aussagen der Interviewpartner/-innen inhaltlich zusammengefasst und protokollarisch wiedergegeben. Zu den einzelnen Interviewpassagen bzw. Paraphrasen wurden Auswertungskategorien, die sich zunächst an der Terminologie der Interviewpartner/-innen orientierten, gebildet, um das gewonnene Textmaterial zu strukturieren. Die Kategorienbezeichnung war meist ein Begriff oder ein Satz, der oft aus dem Interview-Transkript stammte („In-Vivo”-Kategorien”). Weitere Textstellen mit ähnlicher Bedeutung wurden der Kategorie zugeordnet (Subsumtion). Inhaltlich neue Textstellen, die nicht einer der gebildeten Kategorien zugeordnet werden konnten, wurden in einer neuen Kategorie beschrieben. Wurden in einzelnen Passagen mehrere Kategorien angesprochen, so wurden diese auch mehreren Kategorien zugeordnet. Anschließend wurden die gewonnenen Kategorien in thematische Einheiten geordnet und Hauptüberschriften formuliert. Leitend für die begriffliche Einteilung waren erneut die Forschungsfragen. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine „konsensuelle Validierung“ mit zwei weiteren Forschern/-innen durchgeführt, also die Konsensherstellung zwischen verschiedenen Forschern/-innen beim Auswerten und Interpretieren. Diese beiden Forscher/-innen waren primär nicht in den Gesundheitsberufen beheimatet (Soziologe/-in) und hatten damit einen „neutralen“ Zugang zum Feld.
In einem letzten Schritt wurde, angelehnt an Kelle und Kluge (1999, S. 81 - 94), der Prozess der Typenbildung (hier: Phasenbildung) in vier Teilschritten angewandt. Kategorien, die einer Merkmalskombination zugeordnet waren (z.B. „Integration in eine Atmosphäre von Handlung“ und „Mut zum Handeln“, siehe Tabelle 2), wurden miteinander verglichen, um die interne Homogenität der gebildeten Phasen zu überprüfen. Des Weiteren wurden die Phasen untereinander verglichen, um zu eruieren, ob auf der „Ebene der Typologie“ eine externe Heterogenität herrschte, d.h. ob die entstehende Typologie genügend Varianz im Datenmaterial abbildete. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Untersuchungselementen wurden erfasst und die ermittelten Phasen detailliert charakterisiert. Aus dem Material konnten zudem drei Unterdimensionen erarbeitet werden, welche verschiedene Aspekte innerhalb der einzelnen Phase beleuchten: Die funktionale Bedeutung der Aktivität für den Patienten/die Patientin („Aktivität“) sowie die Stellung der Gruppe („Gruppe“) und der Ergotherapeuten/-innen („Therapeut/-in) in der Umsetzung dieser funktionalen Bedeutung der Aktivität.
Soziodemografische und klinische Merkmale der Stichprobe (N=13)
Alter | 28-59 (M= 41.5; SD= 10.2) |
---|---|
Geschlecht | 7 Frauen, 4 Männer |
Erstdiagnose | F 33.1 (n =10) |
F 32.1 (n= 2) | |
F 32.4 (n=1) | |
Erwerbsstatus | bestehendes Arbeitsverhältnis (n=5) |
selbständig (n=2) | |
arbeitslos (n=5) | |
berentet (n= 1) | |
Wohnsituation | alleine (n=8) |
Gemeinsamer Haushalt mit Familie/Partner/ WG (n= 4) | |
Wohnungssuche (n=1) |
Merkmalsbeschreibung der Phasen
Phase 1: Aufmerksamkeitsabwendung | Phase 2: Positive Verstärkung | Phase 3: Selbstwirksamkeitserwartung | |
---|---|---|---|
Dimensionen | Kategorien | ||
Aktivität | Aufmerksamkeitsabwendung | Erfolgserlebnisse Mut zum Handeln Extrinsische Motivation | Selbstwirksamkeit Intrinsische Motivation |
Gruppe | Integration in Atmosphäre von Handlung | Wertschätzung Übungsfeld für Verhaltensänderung | SicherheitBegleitung |
Therapeut/in | Akzeptanz Empathische Begleitung Initiierung geeigneter Tätigkeiten | Reflexion | Fordernde Begleitung |
Die Intervention bestand aus dem standardmässig durchgeführten ergotherapeutischen Angebot der Tagesklinik und wurde für die vorliegende Studie nicht verändert. Die ergotherapeutische Behandlung in der Tagesklinik für Affektkranke erfolgt klienten/innenzentriert, d.h. sie verfolgt „einen Ansatz, der von einer Philosophie des Respekts und der Partnerschaft mit Personen, die behandelt werden, ausgeht. Er erkennt die Autonomie von Menschen an; die Notwendigkeit, dass der Klient eine Auswahl bei Entscheidungen seiner Betätigungs-Bedürfnisse hat (...)“ (Law et al., 1990, zitiert nach Sumsion, 2002). Im Behandlungssetting der vorliegenden Studie umfasst die Ergotherapie insbesondere zwei Gruppenangebote:
Zum einen die „Handlungs- und ausdruckszentrierte Gruppe“, (vgl. hierzu kompetenz- und ausdruckszentrierte Methode nach Scheiber, 1996), bei welcher inhaltliche Schwerpunkte die differenzierte Erfassung und gezielte Förderung der Handlungsfähigkeit und der handlungsbegleitenden Kognitionen (Blaser & Csontos, 2014) bilden. Die Förderung von Handlungskompetenz oder individuellem Ausdrucksvermögen durch handwerkliche Techniken, Spiele oder sonstige, meist selbst gewählte Betätigungen steht im Zentrum dieser Methode. Alle Teilnehmenden (Gruppengrösse bis 8 Teilnehmende) arbeiten im gemeinsamen Raum, meist an der jeweils eigenen Arbeit mit individuellen Zielen. Neben den konkreten Tätigkeiten, die im Rahmen der Ergotherapie gewählt oder vorgeschlagen wurden (z.B. handwerkliche, gestalterische Arbeiten, Spiele, Literatur, Wissenserwerb), wurden zudem in der Reflexion der Alltagshandlungen das Gestalten von Wochenplänen, Gespräche und Rollenspiele als Therapie-Medien eingesetzt.
Zum anderen nahmen die Studienteilnehmenden an der „Alltags- und interaktionszentrierten Gruppe“ teil, deren Fokus auf der Förderung von sozialen Handlungskompetenzen sowie der Unterstützung von Fertigkeiten und Strategien in den Bereichen Alltagsgestaltung, Selbstversorgung und Wohnen liegt. Selbständigkeit in persönlichen Belangen, im sozialen Umgang und in alltäglichen Situationen wird erprobt und eingeübt. Strategien im Umgang mit schwierigen sozialen Situationen werden entwickelt und erweitert. Die Patienten/-innen werden darin gefördert, die eigene Befindlichkeit, eigene Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen und zu verbalisieren. Es werden Gruppenaktivitäten, wie z.B. Planung von Mahlzeiten, Einkauf der Zutaten und Kochen in gemeinsamer Absprache durchgeführt.
Es konnten 13 Studienteilnehmer/-innen aus einer Tagesklinik für Affektkranke in der Deutschschweiz rekrutiert werden. Das Setting der Tagesklinik ist hierbei sinnvoll, weil die Patienten/-innen - im Unterschied zu Patienten/-innen in stationärer Behandlung - täglich in Bezug zu ihrem Alltag stehen. In der Tagesklinik können zeitgleich 16 Patienten/-innen behandelt werden, was bei einer mittleren Aufenthaltsdauer von sechs Monaten die Stichprobengrösse plausibilisiert. Es nahmen 13 Patienten/-innen an der Studie teil, von denen noch 10 zum zweiten Erhebungszeitpunkt befragt werden konnten und in die Analyse einflossen. Die Interviews dauerten zwischen 35 und 80 Minuten.
Die Teilnehmenden wurden im Zeitraum Mitte bis Ende 2013 in die Tagesklinik aufgenommen. Die soziodemografischen und klinischen Merkmale der Studienteilnehmer/-innen sind in
Der Ergotherapie wurden aus Sicht der Betroffenen unterschiedliche Bedeutungen in unterschiedlichen Erkrankungsstadien zugesprochen. Anhand der Analyse der 10 Interviews nach der Behandlung konnten drei Phasen ermittelt werden, die sich hinsichtlich der drei Dimensionen „Aktivität“, „Gruppe“ und „Therapeutin“ unterscheiden. Die Übergänge der Phasen sind fliessend. Die einzelnen Phasen wurden dabei nicht immer chronologisch von den Interviewten durchlaufen, die wechselnde Symptomatik machte einen Wechsel der Stadien innerhalb der Behandlungszeit möglich.
Die Bildung der einzelnen Phasen und deren Merkmale sind Tabelle 2 zu entnehmen.
Die erste Phase im Rahmen der ergotherapeutischen Behandlung ist gekennzeichnet durch eine Abwendung der Aufmerksamkeit von depressiven oder quälenden Gedanken.
Die Aktivität schätzen die Interviewten in dieser ersten Phase als Bewältigungsstrategie ein. Die Handlung selbst lenkt den Fokus weg von negativen Emotionen oder Umständen („Aufmerksamkeitsabwendung“) und hilft damit, die Situation erträglich zu machen.
Interviewpartner 7 (IP 7) beschreibt diese Verschiebung der Aufmerksamkeit folgendermassen:
Die Ablenkung führt dabei aber nicht unmittelbar zu einer Problemlösung, sie bietet „kurzfristige Pausen“ von der akuten, depressiven Symptomatik und Rumination und ist damit in der Einschätzung der Interviewten als Strategie zu verstehen, welche sich auf die unmittelbare Regulierung von Emotionen auswirkt. Es erscheint hierbei bedeutend, eine Tätigkeit zu finden, die weder über- noch unterfordert und dem generellen Interesse der Person entspricht.
Das Gruppen-Setting trägt zu Beginn dazu bei, sich überhaupt auf den Prozess der Ergotherapie einlassen zu können, wie Interviewpartner 5 berichtet:
Phase 1 ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass hier weniger die verbale Interaktion oder die gemeinsame Handlung der Gruppenmitglieder als bedeutsam erachtet wird, sondern vielmehr die Atmosphäre, die durch die Mitpatienten/-innen geschaffen wird („Integration in eine Atmosphäre von Handlung“).
Von den Interviewten wurde auf die Bedeutsamkeit einer wohlwollenden, annehmenden therapeutischen Grundhaltung ohne jeden Druck zur Aktivität oder zur Verhaltensänderung seitens des Therapeuten/der Therapeutin hingewiesen.
Einfühlungsvermögen und die Persönlichkeit des Therapeuten/der Therapeutin wurden als wichtig erachtet, um sich auf den Prozess einlassen zu können und die Integration in eine Atmosphäre von Handlung habe dazu geführt, selber aktiv werden zu können, wie eine Teilnehmerin im Folgenden beschreibt:
Die therapeutische Aufgabe in dieser Phase wird also gesamthaft darin beschrieben, den aktuellen Status der Symptomatik zu akzeptieren und eine Tätigkeit zu initiieren, die den Fähigkeiten (weder Unter- noch Überforderung) und Bedürfnissen der Betroffenen entspricht.
Nach einer ersten Stabilisierung werden von den Interviewten positive Erfahrungen, die teilweise „extrinsische Motivation“ als Hilfe und Wertschätzung anderer miteinbeziehen, beschrieben.
Insbesondere das Gespräch und die Reflexion über die geleistete Aktivität wird als stabilisierend wahrgenommen und ermutigt zur weiteren Handlung („Mut zum Handeln“).
Durch die vorangegangene Integration in eine Atmosphäre von Handlung und die eigenen Aktivitäten werden positive Handlungs-Erfahrungengemacht, diewiederummotivierend erlebt werden. Hierbei erscheint die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die konkrete Tätigkeit selbst ebenfalls positiv verstärkend erlebt zu werden:
Eine andere Teilnehmerin beschreibt den Wandel in ihrer Wahrnehmung der Aktivität ähnlich:
Die Gruppe in dieser Phase diente als positiver Verstärker, wie IP 6 beschreibt: „ (...)
Weiterhin fungierte sie als Übungsfeld für soziale Verhaltensänderung, gibt Rückmeldungen und motiviert:
Die Reflexion der individuellen Bedürfnisse, Ressourcen, Handlungsmuster und Kommunikationsstile sowie deren Umsetzung im Gruppensetting erschienen den Befragten in dieser Phase ausserdem entscheidend.
Eine zentrale Rolle hat in dieser Phase der Therapeut/die Therapeutin, bzw. die von ihm/ihr initiierte Reflexion. Einerseits wird eine Bestärkung des eigenen Handelns beschrieben, die weiterhin ermutigt, aktiv zu sein.
Andererseits werden aber auch Einstellungen der Betroffenen aufgearbeitet und eigene Interessen, Stärken und Handlungsmuster können so (wieder-)erkannt werden. Durch die Verbindung eigener Interessen, Stärken und Schwächen mit dem Bewusstsein über die eigene, aktuelle Handlungsfähigkeit kann es in dieser Phase gelingen, ein realistisches Ziel zu verfolgen. Für IP 10 besteht das Ziel beispielsweise darin, ihr Handlungsmuster der Verantwortungsübernahme zu erkennen und ihre eigenen Grenzen zu wahren:
Für eine andere Teilnehmerin war das Gespräch über die Aktivitäts-Struktur am Wochenende und die positive Verstärkung bei Zielerreichung bedeutend:
Die letzte Phase, die die Befragten im Rahmen des ergotherapeutischen Prozesses beschreiben, lässt sich als „Selbstwirksamkeitserwartung“ beschreiben.
Kennzeichnend ist die veränderte, subjektive Erkenntnis, Anforderungen oder Aktivitäten aufgrund der eigenen Kompetenz bewältigen und daraus positive Emotionen ziehen zu können.
IP 6 beschreibt das veränderte Erleben wie folgt:
Durch die gewonnene Überzeugung, eine Handlung erfolgreich durchführen zu können, tritt ein verändertes Verhalten auf (Selbstwirksamkeitserwartung). Dieses Verhalten wird nicht mehr ausschliesslich auf das therapeutische Setting bezogen, sondern erstreckt sich auch auf die Alltagsbereiche der Betroffenen. In dieser Phase kommt es beispielsweise zu ersten Arbeitserprobungen im ausserklinischen Setting oder zu verlängerten Wochenendaufenthalten im häuslichen Umfeld. Hier werden die erarbeiteten Strategien erprobt.
Das Experimentieren und Ausprobieren von Aktivitäten im geschützten therapeutischen Rahmen helfen und bestärken in dieser Phase, Gefühle der Belastung durch die Tätigkeit in eine Quelle der Kraft durch die Handlung umzuwandeln. Die Gruppe dient in dieser Phase als Ort des Rückhalts, der Sicherheit zum Experimentieren mit neu gewonnenem Erleben und Verhalten ermöglicht, welches sich so verfestigen kann.
In dieser letzten Phase übernimmt der Therapeut/die Therapeutin die Rolle einer ermutigenden und teilweise fordernden Begleitung und initiiert verstärkt Bezüge der Therapie zum Alltag der Betroffenen. Die Betroffenen bearbeiten die mit dem Ergotherapeuten/der Ergotherapeutin definierten Zielsetzungen selbständig auch im ausser-klinischen Alltag und ziehen den Erfolg, anders als in Phase 2, nicht mehr aus der positiven Verstärkung anderer:
Ziel der vorliegenden Studie war die Exploration des Beitrags der ergotherapeutischen Behandlung aus der Nutzer/-innenperspektive.
Die Analyse resultierte in drei Phasen, die von den Betroffenen im Laufe des ergotherapeutischen Prozesses durchlaufen werden. Die als essentiell betrachteten Dimensionen der Ergotherapie (Aktivität, Gruppe, Therapeut/-in) erfüllten je nach Phase unterschiedliche, voneinander abgrenzbare Funktionen. Die hier gefundenen Dimensionen werden auch bei Arnold und Plegge (2014) beschrieben, die in ihrer qualitativen Untersuchung Wirkfaktoren der psychiatrischen Ergotherapie aus der Patienten/-innen-Perspektive identifizierten, die unter anderem in den Bereichen Betätigung, therapeutisches Verhalten, Atmosphäre und Rahmenbedingungen liegen. Die erste Phase, die Aufmerksamkeitsabwendung, ist begleitet von der zu Beginn vorherrschenden akut depressiven Symptomatik. Hier erscheint die Aufmerksamkeitsabwendung von der gedrückten Stimmung und negativen Gedanken durch die Handlung bedeutend. Diese wird auch in der Literatur als emotionale Coping-Strategie beschrieben, die von Menschen mit Depression ausserhalb des therapeutischen Settings angewendet werden kann (Kleinke, 1988). Sie gehört aber auf Grund des mit der Depression einhergehenden reduzierten Aktivitätslevels (eine Ausnahme bildet die agitierte Depression) zu den eher selten selbst-initiierten Strategien (Kleinke, Staneski, & Mason, 1982). Die Einbettung in die Gruppe, in eine „Atmosphäre von Handlung“, ermöglicht die Initiierung der Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus. Schlussfolgernd für ergotherapeutische Interventionen ist auf die Relevanz der Funktion der Aufmerksamkeitsabwendung hinzuweisen, die bei der Betrachtung psychosozialer Massnahmen leicht als trivial oder wertneutral unterschätzt werden kann. Erst das Durchbrechen der Rumination ermöglicht nachfolgend die Auseinandersetzung mit anderen Inhalten und so neue, positive Erfahrungen.
In Phase 2 erschienen die gemachten Erfahrungen von Akzeptanz und Erfolgserlebnissen durch die eigene Handlung bedeutend zu sein. Hier kommt sowohl der Therapeutin/dem Therapeuten als auch der Gruppe die Funktion zu, die Handlung positiv zu verstärken. Dieser Befund erscheint konform einerseits mit dem Erklärungsansatz der Depression als „erlernte Hilflosigkeit“ (Seligmann, 1979) und verschiedenen, verhaltensanalytischen Ansätzen, die das Phänomen “Depression“ erklären. Es wird von einer geringen Anzahl an verstärkenden Ereignissen, einer geringen Verfügbarkeit von Verstärkern und damit einer geringeren Aktivität des Individuums ausgegangen (Hautzinger et al., 1994). Durch die Aktivität im Rahmen der Ergotherapie, eingebunden in einen sozialen Rahmen, wird positive Verstärkung ermöglicht. Auch Christiansen (1999) verwies auf die Folge, die die positive Erfahrung durch eigene Handlung hat. Sie beeinflusst die eigene Sichtweise und Wahrnehmung als kompetente Person und verstärkt wiederum die persönliche Einbindung in Handlungen (Hendricks, Hoey-Long, Jacobs, & King, 2002). Leufstadius et al. (2011) berichten, dass sowohl das Erleben eines befriedigenden Ergebnisses einer Handlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen als sinngebend wahrgenommen wird als auch die Verbindung mit anderen durch die Betätigung. Spezifisch für die Ergotherapie ist daher der Nutzen der gemeinsamen Handlung in der Gruppe hervorzuheben. Die Handlung ermöglicht, während der Therapie analog zur Arbeitsoder familiären Situation den Kommunikationsanteil flexibel und nach individuellem Bedürfnis zu gestalten. Verhaltensweisen können so ungezwungen und nach individuellem Tempo der Betroffenen reflektiert geübt und angepasst werden. Alltagshandlungen (z.B. gemeinsames Kochen) erleichtern dabei den Beziehungsaufbau und die Kommunikation. Dies bestätigt eine qualitative Studie von Ulfseth, Josephsson und Alsaker (2014): Sie beschreiben den Wert von „Alltags-Small-Talk“, der sich während dem Eingebunden-Sein in Handlungen ergibt und einen gemeinsamen Sinn stiften kann.
Die dritte Phase im ergotherapeutischen Prozess, Selbstwirksamkeitserwartung, ist gekennzeichnet durch das veränderte Erleben, dass die eigene Handlung zu erwünschten, positiv besetzten Ergebnissen führen kann und geht damit über die konkrete Betätigung im therapeutischen Setting hinaus. Die Motivation zur Betätigung wird weniger extern bei Mitpatienten/-innen oder der Therapeuten/-innen gesucht, sondern entsteht durch die eigene Handlung selbst („intrinsische Motivation“).
Diese Phase entspricht dem Konzept der Selbstwirksamkeit, erstmals dargestellt von Bandura (1977, S. 193) als „conviction, that one can successfully execute the behaviour required to produce the outcomes.“ Ob eine Person eine Handlung durchführt oder nicht, hängt nicht nur mit ihren Fertigkeiten zusammen, sondern ebenfalls damit, wie sie ihre Kompetenz einschätzt - also mit ihren Gedanken. Sieht sich ein Mensch in der Lage, eine Handlung durchzuführen, wird er dies eher tun, als wenn er Zweifel hat. Bandura (1977) beschrieb die Selbstwirksamkeit als eine kognitive Quelle der Motivation, die zwischen der Person und der Handlung steht. Es ist daher auch kaum verwunderlich, dass zwischen Depression und der Selbstwirksamkeit deutliche Beziehungen nachgewiesen werden konnten (Ruholl, 2007). Die Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung stellt damit ein essessentielles Ziel jeder Depressionsbehandlung dar. Es wäre interessant, den Beitrag, den die Ergotherapie auch objektivierbar durch den Fokus auf die Handlung dazu leistet, in nachfolgenden Studien zu erheben.
Aus langjähriger, praktischer Erfahrung als Ergotherapeutin in der Arbeit mit depressiv Erkrankten formulierte Witschi (2009, S. 24) folgende Aussage, welche die hier gefundenen Phasen inkludiert: „Ein Ziel in der Behandlung ist es, die depressive Symptomatik positiv zu beeinflussen. Dazu führen Ergotherapeuten ihre Klienten aus der Inaktivität heraus, oder sie lenken von quälenden Gedanken ab. Das beeinflusst deren Grundstimmung positiv. Ergotherapeuten können ihre Klienten unterstützen, in die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, auszudrücken und durchzusetzen. Sie bahnen neue Erlebnismöglichkeiten an, die nicht durch negative Erfahrungen vorbelastet sind. Dies regt die Betroffenen dazu an, sich mit den eigenen Leistungsansprüchen und dem Umgang mit sich selbst auseinanderzusetzen.“
Es sei daraufhin gewiesen, dass diese Untersuchung keine kausale oder erklärende Beschreibung der erlebten Therapie-Wirkung geben kann: Da die Studienteilnehmer/-innen neben der Ergotherapie ein breites Behandlungsangebot in Anspruch nahmen und aus ethischen Gründen der Einbezug einer Kontrollgruppe nicht möglich war, ist davon auszugehen, dass auch andere Therapien (z.B. auch psychopharmakologische Behandlung) zur Verbesserung der Symptomatik beigetragen haben. Diesem Aspekt wurde durch entsprechende Fragestellungen in den Interviews Rechnung getragen, welche explizit auf die Unterstützung durch die Ergotherapie fokussierten.
Ein weiterer methodenkritischer Aspekt ist die Befragung der Teilnehmenden in Form von Interviews, die im Sinne der sozialen Erwünschtheit sicher zu weniger Ergotherapie-kritischen Ergebnissen kommt als eine schriftliche Befragung. Es wurde explizit nach Kritik an der Ergotherapie im Sinne der Qualitätsentwicklung des tagesklinischen Angebots gefragt und mehrfach auf die Anonymität der Befragung durch die externe Interviewerin hingewiesen.
Die Autorin gibt an, dass kein Interessenskonflikt besteht.
Die Studie wurde von der Stiftung für Ergotherapie, Zürich, sowie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich finanziert. Wir danken den teilnehmenden Patienten/-innen und Ergotherapeuten/- innen, die diese Studie ermöglicht haben.
Freiwilligkeit der Teilnahme Aufzeichnung und Notizen (für spätere Auswertung) Anonymität, Schweigepflicht Zeitlicher Rahmen des Interviews (30 bis maximal 60 min)
Erwerbstätigkeit: VZ O, TZO, IVO, Rentner/in O, Hausfrau/mann O
Wie häufig in der Woche haben Sie durchschnittlich an der Ergotherapie teilgenommen?
Weitere Therapien/Unterstützungsangebote ausserhalb der TK:
Ort, Datum:
Es soll in diesem Interview darum gehen, wie Sie Ihren Alltag momentan erleben und welchen Beitrag die Ergotherapie eventuell zur Ihrer Unterstützung leisten konnte.
Zuerst möchten wir über ihre Erfahrungen mit Ergotherapie ganz allgemein sprechen: Wie haben Sie die Ergotherapie in der Tagesklinik erlebt? War Ihr Alltag Wie sieht Ihr Tagesablauf oder Tagesrhythmus momentan aus? Und wie wird er nach dem Austritt voraussichtlich aussehen? Arbeit Familie/Partner (auch: eigene Eltern, Angehörige) Freunde Hobbies Haushaltstätigkeiten Welche Veränderungen im Hinblick auf Ihre Alltagsgewohnheiten sehen Sie im Vergleich zu der Zeit, als es Ihnen noch schlechter ging? Welchen Anteil hat Ihrer Meinung nach die Ergotherapie daran? Gibt es Aktivitäten, die vorher (also bei Eintritt in die Tagesklinik) ein Problem waren, die Ihnen nun wieder leichter fallen? Wenn Sie an Aktivitäten denken, die Sie mögen, die Ihnen Freude bereiten (eventuell konkretisieren: z.B. Freizeitaktivitäten, Interessen oder Hobbies): Was machen Sie gerne oder was haben Sie früher gerne gemacht? Wie erleben Sie die Anforderungen aus Ihrem sozialen Umfeld? (z.B. zu Hause, im Berufsalltag? Innerhalb der Familie? Im Freundes- und Bekanntenkreis?) Inwiefern wirken sich die Therapie und insbesondere die Ergotherapie auf Ihre sozialen Kontakte aus? Was hat Sie in der Ergotherapie besonders unterstützt, wenn Sie an die Bewältigung Ihres Alltags denken? Was hat Ihnen an der Ergotherapie weniger gefallen oder war verbesserungswürdig? Haben sich Ihre Erwartungen, die Sie zu Beginn der Behandlung an die Ergotherapie hatten, erfüllt?