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„Wir sind im Krieg”: Macht, Polarisierung und Protest während der Covid-19-Pandemie in Frankreich

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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
Vom Umgang mit Krankheit im öffentlichen Raum. Ein internationaler Blick. De la gestion de la maladie dans l’espace public.Un regard international

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EINLEITUNG

In einer kulturhistorischen Analyse der Repräsentation von Seuchen argumentiert die klassische Philologin Florence Dupont (1984), dass das moderne westliche Verständnis von Epidemien aus der Fusion zweier unterschiedlicher Vorstellungen von Krankheit entstanden ist: der des erkrankten Individuums und der der erkrankten Gemeinschaft. Im Sinne der hippokratischen Medizin sind Krankheiten in der Regel Pathologien, die einzelne Körper befallen. Im Gegensatz dazu betreffen Plagen (im Sinne des lateinischen pestis) den politischen Körper. Sie sind Krisenmomente im Leben der Polis mit einer eigenen Ätiologie und Pathogenese, deren Diagnostik und Therapie folglich eine andere sein muss als bei individuellen Erkrankungen. Dupont argumentiert, dass mit der Entstehung des Wissensfeldes der Epidemiologie der Mythos der erkrankten Polis nicht überwunden wurde. Vielmehr wurde dieser Mythos in unsere Vorstellungswelt integriert und mit der Verschmelzung individueller und kollektiver Körperkonzepte sogar gefestigt. Das ist mit ein Grund dafür, warum schwere Epidemien bis in die heutige Zeit nicht nur als Häufung von Krankheitsfällen aufgefasst werden, sondern auch als Krisenmoment, das den gesamten sozialen Körper befällt. Die Tatsache, dass schwere epidemische Ereignisse nicht selten mit scheinbar irrationalen Massenphänomenen einhergehen, wie der Verbreitung von Verschwörungstheorien oder der Verfolgung von Sündenböcken, verstärkt die Annahme, dass mythische Elemente in der Wahrnehmung von Epidemien fortbestehen.

Florence Dupont bekräftigt in ihrer Analyse eine grundlegende Erkenntnis der Kulturgeschichte der Medizin, nämlich dass der Umgang mit Gesundheit und Krankheit tief in tradierten Deutungs- und Handlungsmustern verwurzelt ist. Auch die öffentliche Gesundheit als Wissensfeld, das untrennbar mit der Genealogie des modernen Staates verbunden ist, muss stets in ihren Verflechtungen mit soziokulturellen Normen und Vorstellungen betrachtet werden. Dafür plädiert zum Beispiel der Soziologe Didier Fassin in seiner Analyse des medizinischen Diskurses um Bleivergiftungen. Er definiert öffentliche Gesundheit als kulturelle Praxis und erklärt: „La santé publique est [...] cette activité culturelle par laquelle un fait biologique [...] est construit comme fait social” (Fassin 2005: 52). Obwohl es sich bei der Verbreitung von SARS-CoV-2 um ein globales Phänomen handelte, machten die unterschiedlichen politischen Antworten und gesellschaftlichen Reaktionen auf das Infektionsgeschehen erneut deutlich, wie sehr Epidemien nicht nur biologische, sondern auch zutiefst kulturelle Phänomene sind.

Anstelle einer chronologischen Rekonstruktion der Gesundheitskrise in Frankreich, konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf drei Facetten des öffentlichen Umgangs mit der Pandemie. Zuallererst wird auf die zentrale Rolle der Exekutive eingegangen und dabei insbesondere auf die Deutung der Pandemie als Krieg und die damit verbundene Inszenierung Emmanuel Macrons als Präsident eines Landes im Ausnahmezustand. In einem zweiten Schritt wird die Polarisierung um die Figur des umstrittenen Didier Raoult diskutiert. Darauf aufbauend gilt es, die unterschiedlichen Formen und geographischen Verteilungen des Protestes gegen die Impfkampagne und gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu analysieren.

„NOUS SOMMES EN GUERRE”: KRIEGS-RHETORIK UND HEROISIERUNG

Nous sommes en guerre, en guerre sanitaire certes. Nous ne luttons ni contre une armée ni contre une autre nation, mais l’ennemi est là, invisible, insaisissable, et qui progresse. Et cela requiert notre mobilisation générale. Nous sommes en guerre. Toute l’action du gouvernement et du Parlement doit être désormais tournée vers le combat contre l’épidémie, de jour comme de nuit. Rien ne doit nous en divertir. (Macron 2020a)

Macrons Rede vom 16. März 2020 wurde zum Inbegriff der martialischen politischen Kommunikation vieler Regierungen im Umgang mit der Pandemie. Schon rasch avancierte die Kriegsmetapher zu einem der vorherrschenden Deutungsrahmen für das Infektionsgeschehen (siehe hierzu Pasler 2020). Der Aufruf, man befinde sich im Kriegszustand, prägte den offiziellen Diskurs über das Infektionsgeschehen, und das nicht nur in Frankreich. Es ist wohl kein Zufall, dass US-Präsident Donald Trump nur einen Tag nach Macrons Rede ebenfalls das Bild eines Krieges gegen einen unsichtbaren Feind beschwor. In seiner bekannten Manier verkündete er in einem Tweet: „the world is at war with a hidden enemy. WE WILL WIN!” (zitiert in Crespin / Clavier 2022: 20). Am selben Tag bezeichnete der britische Premierminister Boris Johnson seine Regierung als „wartime government” (zitiert in Waylen 2021: 1164).

Die eingesetzte Kriegsrhetorik muss in erster Linie als politische Kommunikationsstrategie verstanden werden, die zumindest im französischen Kontext mehrere Funktionen erfüllte. Sie war einerseits ein Mittel, den anfänglich eher verharmlosenden Umgang der Regierung mit der Ausbreitung des Virus zu kompensieren. Die mit einem Krieg einhergehende Vorstellung eines Ausnahmezustandes fungierte zugleich als Mittel, um die Notwendigkeit drastischer Maßnahmen zu begründen. Angesichts hoher Inzidenzen und überlasteter Intensivstationen beschloss die Exekutive auf der Grundlage eines neueingeführten Gesundheitsnotstandes eine Massenquarantäne auszurufen. In seiner Rede kündigte Macron an, dass das Verlassen der eigenen Wohnung bereits am Folgetag nur mit einem triftigen Grund in einem Umkreis von einem Kilometer erlaubt werden würde. Ausgangssperren hatte es in Kontinentalfrankreich bis dato nur im Kontext schwerer gesellschaftlicher Unruhen oder im Kriegszustand gegeben – so zuletzt im Herbst 2005 während der Aufstände in vielen Banlieues und davor während des Algerienkrieges als Antwort auf den Putsch der Generäle von 1961.

Die Notstandslage brachte eine Veränderung der Machtverhältnisse innerhalb des politischen Systems mit sich. So wurde in den ersten zwei Jahren der Pandemie ein spezialisierter Verteidigungsrat unter Leitung des Präsidenten zu einer zentralen Instanz politischer Entscheidungsfindung. Der eigentlich für militärische Fragen zuständige Verteidigungs- und Sicherheitsrat tagte ab März 2020 fast wöchentlich in Form eines Conseil de défense sanitaire. Problematisch erscheint hier nicht nur die Tatsache, dass dieser Rat in der Verfassung nicht vorgesehen ist, sondern vor allem, dass seine Sitzungen der militärischen Geheimhaltung unterliegen (Desmoulin 2021). Die Verquickung von Gesundheits- und Verteidigungspolitik legt nahe, dass es sich bei Macrons Aufruf „nous sommes en guerre” um mehr als eine Metapher handelte.

Die martialische Rhetorik war auch eine Reaktion auf die politische Situation und insbesondere auf die erste Runde der Kommunalwahlen am Tag vor Macrons Rede. Bis kurz vor den Wahlen ließ die Exekutive die Frage einer Verschiebung des Urnengangs offen. Angesichts des Drucks der Opposition und der verfassungsrechtlichen Hürden für eine solche Maßnahme fand die erste Runde der Wahlen wie geplant statt. Die schwache lokale Verankerung der erst 2017 ins Leben gerufenen La République En Marche! verhieß keine großen Durchbrüche für die Regierungspartei. Mit keinem einzigen Erfolg in Städten von mehr als 100.000 Einwohnern fielen die Ergebnisse für Macron und seine Regierung noch desaströser als befürchtet aus. Berücksichtigt man, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in den Gemeinderäten auf die Zusammensetzung des Senats auswirken, da die zweite Kammer größtenteils von lokalen Amtsträgerinnen und -trägern gewählt wird, wird deutlich, wie geschwächt die Regierung aus diesen Wahlen hervorging.

Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend zu vermuten, dass die Kriegsrhetorik auch als Mittel fungierte, die Popularität der Exekutive und insbesondere die des Staatspräsidenten zu steigern. Tatsächlich erfuhren die Zustimmungswerte für Macron den stärksten Aufstieg seiner ersten Amtszeit. Laut der Daten des Meinungsinstituts IFOP stiegen die Beliebtheitswerte für den Präsidenten von 32 Prozent im Februar auf 43 im März 2020 (IFOP 2022). Dieses unter dem Schlagwort „Rally-’round-the-Flag-Effekt” bekannte Phänomen könnte erklären, warum die Zustimmungswerte für die Exekutive in Ländern stiegen, in denen vergleichsweise strenge Massen-quarantänen ausgerufen wurden (Bol et al. 2021).1

Aller Polarisierung zum Trotz war die Frühphase der Pandemie in Frankreich, wie auch in anderen von Lockdowns betroffenen Ländern, von einer Reihe gemeinschaftsbildender Rituale geprägt. Medial besonders präsent war der abendliche Applaus für das Gesundheits-personal. Dieser begann ursprünglich in Italien und wurde in Frankreich zu Beginn der ersten Ausgangssperre zu einem Massenphänomen. Im öffentlichen Diskurs wurde der Applaus als Inbegriff von Solidarität und Resilienz in widrigen Zeiten gedeutet (Gemignani / Hernández-Albûjar 2022). Eine politische Vereinnahmung dieses Rituals ließ jedoch nicht lange auf sich warten. In den sozialen Netzwerken verbreiteten Regierungsmitglieder Appelle zur öffentlichen Würdigung der Arbeit des pflegerischen und medizinischen Personals. Unter dem Titel „soutien à nos héros en blouses blanches” postete der Elysée-Palast am 9. April das Video eines Besuchs von Emmanuel Macron in einem Pariser Krankenhaus, in dem der Präsident sowie das Pflegepersonal applaudierend zu sehen waren. Bereits am 25. März hatte Macron bei einem Besuch in einem militärischen Feldkrankenhaus in der schwer vom Virus betroffenen Industriestadt Mulhouse erneut von einem Krieg gesprochen und dabei die Pflegerinnen und Pfleger als Kämpfer an der Front bezeichnet (Macron 2020b).

Die Heroisierung des medizinischen und pflegerischen Personals erreichte ihren Höhepunkt am französischen Nationalfeiertag. Anstelle der traditionellen Militärparade auf den Champs-Élysées fanden die offiziellen Feierlichkeiten zum 14. Juli in einem kleineren Format auf der Place de la Concorde statt. Über die Hälfte der 2500 Ehrengäste kamen aus dem Gesundheitssektor. Ihnen galt ein langer Applaus an einem Nationalfeiertag, an dem auch der vor 130 Jahren geborene und vor 50 verstorbene General De Gaulle gefeiert wurde. 80 Jahre nach seinem Appell des 18. Juni 1940 wurden Rettungsdienstangestellte, Pflegende, Ärztinnen und Ärzte als neue Widerstandskämpfer gefeiert. Inszeniert wurde dieser Parallelismus unter anderem durch die Anwesenheit von Gesundheitspersonal in den Jets der Patrouille de France, der Kunstflugstaffel, deren blau-weiß-rote Kondensstreifen ein zentrales Symbol des 14. Julis bilden. 2020 standen die Feierlichkeiten unter dem Motto „une Nation engagée, unie et solidaire.” Bereits zu diesem Zeitpunkt verbarg jedoch die vielbeschworene Einheit eine zunehmende Polarisierung.

EINE GESPALTENE REPUBLIK?

Von Beginn an wurde der Applaus für das Gesundheitspersonal als Ablenkung von der prekären Lage des französischen Gesundheitssystems kritisiert. Mit lediglich 16,3 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner (weniger als die Hälfte als in Deutschland, OECD 2020: 13), einer chronischen Unterfinanzierung der öffentlichen Krankenhäuser, einer im OECD-Vergleich weit unterdurchschnittlichen Entlohnung des Pflegepersonals (OECD 2019) und dem damit verbundenen Pflegenotstand war Frankreich denkbar schlecht vorbereitet auf die Pandemie. Als Antwort auf die Missstände im öffentlichen Gesundheitswesen versprach die Regierung unter dem Schlagwort „Ségur de la Santé” Verhandlungen über höhere Investitionen und Lohnerhöhungen.

Mit der Bezeichnung „Ségur de la Santé” in Analogie zu den Accords de Grenelle von 1968 weckte die Exekutive sehr hohe Erwartungen.2 Während des Konsultationsverfahrens mit Vertreterinnen und Vertretern des Gesundheitswesens fanden am 30. Juni 2020 in mehreren französischen Städten großangelegte Demonstrationen für bessere Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern statt. Vor allem in Paris eskalierten die Proteste in Gewalt, nachdem Gelbwesten und Antifa-Gruppen sich den Demonstrationszügen anschlossen, und die Polizei mit Tränengas eingriff. Spätestens mit der Verbreitung dieser Bilder verlor das Narrativ von Eintracht und Solidarität an Plausibilität.

Die Corona-Pandemie hatte die Folgen der von sukzessiven Regierungen vorgenommenen Einsparungen im Gesundheitssystem in besonders dramatischer Weise offengelegt. Die angekündigten Boni und Lohnerhöhungen für das Gesundheitspersonal verhinderten nicht, dass sich ähnliche Demonstrationen in regelmäßigen Abständen wiederholten. Solche sozialen Konflikte haben in Frankreich zwar eine lange Tradition, aber die Krise brachte auch neue Formen des Protests hervor.

In der Frühphase der Pandemie wurde der Infektiologe Didier Raoult zu einer zentralen Figur in der Polarisierung der öffentlichen Meinung. Der damalige Leiter des universitäts-klinischen Instituts für Infektionskrankheiten in Marseille galt in der Fachgemeinschaft als einer der führenden französischen Forscher im Bereich der medizinischen Mikrobiologie. Schon früh nutzte er seinen Bekanntheitsgrad, um öffentlich politische Positionen zu beziehen. So war Raoult bereits in den späten 1990er Jahren als politischer Kommentator aktiv. Weltweite Bekanntheit erlangte er erst durch das von ihm propagierte Therapieprotokoll gegen COVID-19. Ohne adäquate wissenschaftliche Fundierung warb Raoult für die Verwendung des Antibiotikums Azithromycin kombiniert mit dem vor allem zur Prophylaxe und Behandlung von Malaria bekannten Arzneimittel Hydroxychloroquin.

Didier Raoults Profilierungsstrategie war eine eigenartige Kombination aus epistokratischer Legitimierung, populistischer Kommunikation und der Verbreitung von Verschwörungstheorien. So präsentierte sich Raoult als brillanter Wissenschaftler, dessen Therapieansatz gegen SARS-CoV-2 von den politischen Eliten diskreditiert werde, um die Profite von Pharmakonzernen zu schützen. Auf politischer Ebene fand Raoult vor allem im mitte-rechts und rechtsextremen Spektrum des französischen Parteiensystems Unterstützung (Smyrnaios et al. 2021). Besonders legitimierend dürfte für Raoult die Unterstützung seitens des ehemaligen Gesundheitsministers Philippe Douste-Blazy gewesen sein. Hinzu kam die Ankündigung des Bürgermeisters von Nizza, Christian Estrosi, Raoults Therapieprotokoll in seine Stadt einzuführen nachdem Estrosi behauptet hatte, die Therapie habe bei ihm gewirkt (Sauvayre 2020: 91). Raoults wachsende Popularität brachte sogar Präsident Macron dazu, den umstrittenen Mikrobiologen in Marseille zu besuchen. Außerhalb Frankreichs wurde der Glaube an Hydroxychloroquin zur Behandlung von Covid vor allem von rechtspopulistischen bis rechtsextremen politischen Akteuren propagiert – in erster Linie von Donald Trump und vom brasilianischen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro.

Der Streit um Didier Raoult offenbarte eine Spaltung in der französischen Gesellschaft, die sich dem Links-Rechts-Schema weitestgehend entzog. Strukturierend für diese Konfliktlinie war die Einstellung gegenüber dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess und die Bereitschaft, verschwörungstheoretischen Erzählungen Glauben zu schenken. So zeigt die empirische Studie von Fuhrer und Cova (2020), dass Unterstützer von Raoult dazu neigten, politischen und wissenschaftlichen Autoritäten zu misstrauen. Der Glaube an Hydroxychloroquin als Wundermittel gegen Covid war vor allem bei Individuen mit einem ausgeprägten intuitiven Denkstil vertreten. Das bestätigt die Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie, dass konspiratives Denken oft mit einem intuitiven kognitiven Stil einhergeht (Lantian et al. 2020). In einem von Ungewissheit geprägten Kontext befriedigte Raoult das Bedürfnis vieler Menschen nach einfachen Erklärungen und einem schnellen Ausweg aus der Krise.

Die Logik der Viralität, die die Informationsverbreitung in sozialen Medien steuert (Klinger und Svensson 2015), war eine wesentliche Triebkraft für Raoults Erfolg. Verschwörungstheoretische Deutungen und pseudomedizinische Therapieprotokolle konnten sich umso ungehinderter ausbreiten, als ein etablierter wissenschaftlicher Diskurs über die Pandemie noch gänzlich fehlte. Die Tatsache, dass selbst die Regierung am Anfang Falschinformationen über das Virus verbreitete (wie zum Beispiel Aussagen über die Nutzlosigkeit von Masken als Schutz gegen eine Infektion), trug auch sehr wahrscheinlich zum Erfolg von Desinformationskampagnen bei. Verstärkend hinzu kam das in französischen Nachrichtensendern beliebte Format der Kommentatorenrunden. Sender wie BFM TV, LCI oder CNews strahlten fast kontinuierlich Diskussionsrunden aus, bei denen unfundierte Behauptungen mit vorsichtigen Analysen um die Gunst des Publikums konkurrierten. Insgesamt verdeutlichte der Informationsfluss in der Hochphase der Pandemie, wie schwer sich die oft mühsame Erkenntnisfindung in der evidenzbasierten Medizin in die Temporalität von sozialen Medien und Nachrichtensendern übersetzen lässt.

GEOGRAPHIEN DES PROTESTS

Mit dem Rückgang der Infektionsfallzahlen in den Sommer-monaten 2020 und den zunehmend begründeten Zweifeln an der Wirksamkeit von Raoults Therapieprotokolls verlor die Konfliktlinie langsam an Schärfe. Die Impfkampagne und die neuen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus brachten jedoch eine neue Welle der Polarisierung mit sich. Auf den ersten Blick war die Opposition gegen die Corona-Politik der Regierung in Frankreich deutlich geringer als in Deutschland. Eine mit den Querdenkern vergleichbare Protestbewegung gab es in Frankreich in den ersten Monaten der Pandemie nicht. Aufgrund der langen Ausgangssperren in Frankreich ist der Vergleich jedoch schwierig. Auffällig sind dennoch die unterschiedlichen Strategien von parteipolitischen Akteuren auf beiden Seiten des Rheins. Anders als die Alternative für Deutschland, die eine recht konsequente impfskeptische Linie verfolgte, vermied es Marine Le Pen, sich allzu offen auf die Seite der Gegnerinnen und Gegner der Impfkampagne zu stellen. Dieser Unterschied lässt sich in erster Linie mit den divergierenden Strategien der zwei rechtsextremen Parteien erklären. So wäre die Positionierung der AfD kaum mit Le Pens Strategie zu vereinbaren, ihrem Rassemblement National ein Profil als regierungsfähige Partei zu verleihen.

Erst mit der Einführung des sogenannten passe sanitaire begannen größere Proteste in mehreren französischen Städten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Im Laufe des Sommers 2021 wurde der Zutritt zu immer mehr Orten von der Vorlage dieses Gesundheitspasses abhängig gemacht. Wie in anderen Ländern versuchte die Regierung, mit den Einschränkungen die Bevölkerung zur Impfung zu motivieren. Die Proteste richteten sich in erster Linie gegen die restriktiven Anordnungen. Viele Demonstrierende wehrten sich dagegen, als „antivax” (Impfgegner) bezeichnet zu werden und nannten sich stattdessen „anti-passe”. Tatsächlich waren die Proteste aber in denjenigen Regionen stark, wo die Impfbereitschaft traditionell niedrig ist. Dies gilt in erster Linie für den Südosten des Landes. Jérôme Fourquet und Sylvain Manternach führen die Impfskepsis in diesen Gebieten auf drei Phänomene zurück. Sie sehen darin zum einen eine historisch tradierte Kultur des Widerstandes gegen das etablierte Regime; eine Kultur, die sich von den Katharern bis hin zu den Maquisards im Laufe der Jahrhunderte immer wieder manifestiert hat. Zudem hat sich in den südöstlichen Regionen ein gewisses Misstrauen gegenüber der sogenannten Schulmedizin entwickelt. Diese Haltung ist vor allem in den Gemeinschaften der „néo-ruraux” ausgeprägt. Unter diesen oft wachstumskritischen Landbewohnern mit einem urbanen Hintergrund ist eine Skepsis gegenüber dem technischen und medizinischen Fortschritt stark vertreten. Hinzu kommt, dass in den Küstenregionen des Mittelmeers besonders viele Anhänger des rechtsextremen Rassemblement National leben. Kennzeichnend für diese Wählerhochburgen der Partei ist eine anti-etatistische Haltung, die sich in einem Argwohn gegenüber staatlichen Aufforderungen äußert. Die Analyse von Fourquet und Manternach legt nahe, dass sich hinter dem Etikett „Impfgegner” oder „Impfskeptiker” eine heterogene Gruppe verbirgt. Die Vielfalt der Motivationen war bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen besonders sichtbar mit einem breiten Spektrum an politischen Färbungen, die von Linkslibertären über Gelbwesten und Identitären bis hin zu rechtsextremen Royalisten reichten. Der Vergleich mit den Querdenkern und der in Deutschland beobachteten Konvergenz von esoterischen grün-alternativen Bewegungen und rechtsextremem Protest scheint also nicht ganz abwegig. Auf Martinique und Guadeloupe war es vor allem die Einführung einer Impfplicht für Angestellte in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen, die eine Demonstrationswelle mit teilweise heftigen Protesten entfachte. Auch im französischen Mutterland war diese Maßnahme Gegenstand von Kritik seitens vieler Demonstrierender. Aufgrund einer Impfquote von durchschnittlich über 90 Prozent im Gesundheits- und Pflegesektor zu Beginn des Herbstes 2021 (Santé Publique France 2021) spielte die berufsbezogene Impfpflicht bei den Demonstrationszügen in kontinentalfranzösischen Städten keine zentrale Rolle. Anders war die Situation in den meisten Übersee-Départements. Genau vergleichbare Daten zur Impfquote nach Berufsgruppen sind für Martinique und Guadeloupe nicht verfügbar. Allerdings ist davon ausgehen, dass die Impfpflicht für deutlich mehr Angestellte in Kliniken und Pflegeheimen als im Rest des Landes ein Problem darstellte. Der Grund hierfür liegt in der ausgeprägten Impfskepsis unter der Bevölkerung der zwei Départements. So lag der Anteil an Impfberechtigen auf Martinique und Guadeloupe, die bis November 2022 mindestens eine Impfdosis erhalten hatten, bei rund 40 Prozent. Im Vergleich dazu waren es in ganz Frankreich über 80 Prozent (Ministère de la Santé 2022).

Die Vorbehalte gegen die Impfkampagne in den karibischen Übersee-Départements müssen vor dem Hintergrund eines historisch begründeten Misstrauens gegenüber der französischen Zentralregierung verstanden werden. Zu nennen ist hier insbesondere der Skandal um die Verwendung des Pestizids Chlordecon auf Bananenplantagen, lange nachdem Länder wie die USA das Mittel aufgrund seiner Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt verboten hatten. Bis heute leidet die Bevölkerung auf Martinique und Guadeloupe unter den schweren Folgen der Pestizidbelastung von Trinkwasser und Boden. Die Soziologin Stéphanie Mulot (2021) sieht in der niedrigen Impfbereitschaft auf Guadeloupe darüber hinaus eine Form des Widerstands gegen Vorgaben aus Paris und den Ausdruck eines Strebens nach Souveränität. Tatsächlich waren die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eher Katalysator als Hauptursache der Proteste auf den französischen Antillen. Die Demonstrationen lassen sich in die Reihe an Streik- und Protestaktionen gegen die hohen Lebenshaltungskosten einordnen. So forderten Gewerkschaften neben einer Aufhebung des Gesundheitspasses und der berufsbezogenen Impfpflicht auch Lohnerhöhungen und Entschädigungen für das von Chlordecon verursachte Leiden. Die Exekutive reagierte auf die Proteste mit einer Mischung aus Repression und Verhandlungsbereitschaft. So kündigte Innenminister Darmanin im November 2021 zur Befriedung der Lage auf Guadeloupe die Entsendung von Spezialeinheiten der Polizei und Gendarmerie. Kurz danach versprach der Überseeminister, das Inkrafttreten der berufsbezogenen Impflicht auf Martinique und Guadeloupe auf den 31. Dezember 2021 zu verschieben.

Die Lage in den beiden Übersee-Départements verdeutlicht, wie sehr die Corona-Pandemie das Selbstverständnis der territorialen Gleichheit ins Wanken gebracht hat. Konfrontiert mit regional höchst unterschiedlichen Infektionsge-schehen und Einstellungen gegenüber Vakzinen, musste die Regierung die zentralistische Ausrichtung der französischen Gesundheitspolitik zumindest ansatzweise überdenken.

SCHLUSSBEMERKUNGEN

Die Pandemie hat nicht nur die Vulnerabilität der öffentlichen Gesundheitssysteme, sondern auch die Störanfälligkeit der demokratischen Diskussionskultur offenbart. Diese Feststellung gilt gewiss nicht nur für Frankreich. Und doch gibt es bestimmte situative sowie strukturelle Faktoren, die den französischen Fall besonders machen. Die Kriegsrhetorik der Exekutive und der schwer lesbare Ansatz in der Pandemiebekämpfung fallen in diesem Zusammenhang sofort ins Auge. In allen Ländern spielten wissenslegitimierte Institutionen eine zentrale Rolle. So wurden in fast allen EU-Mitgliedstaaten epistokratisch legitimierte Kommissionen mit meist beratenden, zuweilen aber auch exekutiven Befugnissen eingesetzt. In Frankreich wurden 2020 gleich drei Expertenkommissionen ins Leben gerufen, deren Auftrag unmittelbar mit der Pandemie zusammenhing. Medial präsent waren vor allem die Empfehlungen des Conseil scientifique Covid-19, darunter die Empfehlungen zur Organisation der Kommunalwahlen. Eine weitere Kommission, der Comité analyse recherche et expertise (CARE), befasste sich mit der Bündelung und Priorisierung der Forschungsförderung. Der conseil d’orientation de la stratégie vaccinale, schließlich, war mit der Formulierung von Impfempfehlungen beauftragt. Schnittstellenprobleme und Kompetenzüberlappungen mit vorhandenen Strukturen im öffentlichen Gesundheitsmanagement behinderten die Arbeit der Kommissionen und erschwerten die Transparenz der französischen Pandemiebekämpfung. Gekoppelt mit der starken Medienpräsenz von politisch engagierten medizinischen Experten hat dieser Ansatz sehr wahrscheinlich ein gewisses Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber einem technokratischen und elitären Politikstil gefördert.

Grundsätzlich hat das komplexe französische Mehrebenen-system mit starker zentralistischer Lenkung die notwendige territoriale Koordination bei der Pandemiebekämpfung erschwert. So bemerkte der Conseil d’analyse économique (ein beim Premierminister angesiedeltes beratendes Gremium) in einer Analyse der Handhabung der Pandemie mit ungewohnter Schärfe:

[L]a gestion du Covid 19 est un puissant révélateur du fonctionnement de la démocratie française, caractérisée par une hyper-centralisation de la décision, qui associe peu, ou tardivement, les corps intermédiaires, les collectivités territoriales et le Parlement. Il s’agit d’une gestion proprement politique, marquée par une méfiance vis- à- vis des administrations (et des citoyens) [...]. (Bergeron et al. 2021: 3)

Die Autoren sehen in diesem Zusammenhang die Einrichtung von Expertenkommissionen als geleitet von einem „tropisme technocratique” (ebd.). Dieser technokratische Duktus wird gewöhnlich auch mit der französischen Protestkultur in Verbindung gebracht. Aufgrund der Machtkonzentration bei der Exekutive und der Schwäche von institutionellen Vetospielern wird die Straße zur zentralen Arena in der Austragung von politischem Dissens.

Aller berechtigten Kritik gegen die französische Handhabung der Pandemie zum Trotz muss eingestanden werden, dass Frankreich in mehreren Punkten gut auf die Pandemie reagierte. Nicht zuletzt dank einer erfolgreichen Impfkampagne und der strikten Quarantäne-Maßnahmen verzeichnete das Land nach der ersten Phase der Pandemie eine im EU-Vergleich niedrigere Übersterblichkeit (Eurostat 2023). Hinsichtlich des Protestverhaltens während der Pandemie scheint in Frankreich vor allem die dringende Frage der Finanzierung des Gesundheitssystems im Mittelpunkt gestanden zu haben und nicht etwa der Glaube an Verschwörungen, wie bei der deutschen Querdenker-Bewegung. Der französische Protest erweis sich auch insofern als produktiv, als die als Reaktion dazu ausgerufenen Verhandlungen zu einigen Besserungen führten. Wichtig war aber auch die Rolle Frankreichs als Mittlerin zwischen den südeuropäischen und den nord- und mitteleuropäischen EU-Mitgliedsstaaten in der Frage der adäquaten finanziellen Instrumente, um die Auswirkungen der Pandemie abzufedern. Die Tatsache, dass es Emmanuel Macron gelang, die deutsche Regierung von der Notwendigkeit eines europäischen Wiederaufbaufonds zu überzeugen und dass das deutsch-französische Paar daraufhin das Projekt gemeinsam trug, darf schließlich auch als Erfolg der französischen Europapolitik verbucht werden.

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