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Kulturinitiative 89 und das erste kulturwissenschaftliche Institut in der DDR. Gespräch mit Dietrich Mühlberg.

| Dec 06, 2019
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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
„1989/90 – 30 Jahre danach: Welche Erinnerungen? 30 ans après: quelles mémoires?”

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Interview mit Dietrich Mühlberg (DM) am 9.5.2019 in Berlin durch Françoise Knopper (FK) und Dorothee Röseberg (DR). Transkription : DR, Übersetzung ins Französische : FK

DR

 Die Kulturinitiative 89 wird in diesem 30. Jubiläumsjahr des Mauerfalls ebenfalls 30 Jahre. Wir wollten gern wissen, was die Kulturinitiative 89 im Jahr 1989 war und was sie heute ist ? Sie gehören dem Gründungskomitee an ; wer waren Ihre Mitstreiter ?

DM

 Die Kulturinitiative 89 ist heute ein kleiner gemeinnütziger Verein. Er ist hier in Berlin Ende der 1980er Jahre aus einem Verbund von Kulturwissenschaftlern hervorgegangen. In diesem Kreise waren wir schon zu Beginn der 80er Jahre der Meinung, dass es nötig wäre, all diejenigen, die auf unserem Gebiet studiert haben und dann im „kulturellen Leben“ arbeiteten, die promoviert waren, inzwischen lehrten und forschten, sie alle in einem Verband zu vereinen – ähnlich den Künstlerverbänden. Wir wollten damit gemeinsame Interessen geltend machen und die Kommunikation unter uns verstetigen. Solchen Austausch hatten wir schon in einem Arbeitskreis Kulturtheorie (er nannte sich „Problemrat“), der war bei der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (also beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands) angesiedelt. Ihn leitete der Kulturwissenschaftler Helmut Hanke, bis er 1986 nach Potsdam strafversetzt worden ist. In diese Diskussionsrunde kamen auch Kollegen aus Leipzig, wie Michael Hofmann und Lothar Parade. Aus Jena nahm Dieter Strützel teil, er war dort an der Universität für Kulturwissenschaft „zuständig“. Von den in Leipzig ansässigen „Jugendforschern“ war Lothar Bisky dabei, zuständig für Kultursoziologie. Wir kamen regelmäßig zusammen und haben neben wissenschaftlichen Themen immer auch die politische Großwetterlage behandelt.

DR

 Das war wann genau, im November 89 ?

DM

 Unser Problemrat existierte seit den 1970er Jahren. Der Entschluss, einen eigenen Verband zu gründen, reifte mit den Jahren. Vor allem durch gemeinsame Veranstaltungen. Entscheidend war 1986. Da haben wir versucht, unsere Position in der europäischen Kultur zu bestimmen. Ein ungünstiger Zeitpunkt, denn es gab gerade Streit zwischen Moskau und Honecker. Gorbatschow wollte verhindern, dass die DDR auch auf „höchster Ebene“ eigenständig mit der Bundesrepublik verhandelt. Honecker durfte nicht nach Bonn fahren. Denn : Helmut Kohl hatte Gorbatschow mit Goebbels verglichen. Darum musste er auf Drängen Moskaus die Reise nach Bonn absagen.

Und wir Ahnungslosen machten in dieser Situation eine Tagung über Europa und den europäischen Charakter unserer sozialistischen Kultur. Ermuntert hatte uns, dass nicht nur von der westdeutschen SPD eine Politik vertreten wurde, die – wie wir meinten – auf Annäherung, Zusammenarbeit und eine mögliche Konföderation beider deutscher Staaten hinauslief. Wir machten also eine recht spannende Tagung, zusammen mit den „Problemräten“ für Kultursoziologie und für internationale Kulturprozesse. Dafür wurden wir dann hart abgestraft. Bis hin zur Forderung, den Studiengang Kulturwissenschaft aufzulösen. Das mag auch mehr eine Geste nach Moskau hin gewesen sein. Das konnte ich nachträglich nicht klären, obwohl ich mir im Bundesarchiv inzwischen alles angesehen habe, was die Kulturabteilung des ZK, was Kurt Hager und was Erich Honecker dazu notiert hatten. Es war jedenfalls recht dramatisch. Helmut Hanke wurde rausgeworfen und sein Chef Hans Koch, an der Gewi-Akademie (also der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED) verantwortlich für alle Kulturwissenschaften, beging Selbstmord. Solche Situationen schweißen zusammen. Zwar blieben danach einige weg, aber die meisten dachten, wir müssen weitermachen. Das ging auch, denn Helmut Hanke wurde nur nach Babelsberg an die Filmhochschule versetzt, zu Lothar Bisky, der kurz davor dort als Rektor eingeführt worden war. Die Strafversetzung war also nicht so schlimm. Auch ich wurde für meinen Vortrag nicht abgesetzt, doch es wurde eine Kommission gebildet, die zu prüfen hatte, ob unser Studiengang nicht besser aufgelöst werden sollte.

Das passte alles so gar nicht in die Zeit, geprägt von Reformdebatten und neuen kulturpolitischen Ideen. Auch das führte dazu, dass wir in den 80ern so eine Art Berufsverband gründen wollten. Wir kannten die Kulturpolitische Gesellschaft im Westen und unseren Kulturbund, der eine Dachorganisation aller Arten von Kulturvereinen der DDR war – beides kein Modell für uns. Wir mussten etwas Eigenes erfinden, speziell für Kulturwissenschaftler mit kulturpolitischen Ambitionen. (Ich bleibe hier etwas in der Sprache der Zeit, wenn ich die männliche Form benutze ; selbstverständlich gehörten dazu mit den Jahren auch immer mehr Wissenschaftlerinnen.)

Im September 89 haben wir angefangen unser Programm thesenartig zu skizzieren. Ein wenig vermischt mit unseren Reformvorstellungen für den Studiengang Kulturwissenschaft. Wichtig waren die Debatten über die Rechtsform unserer Gemeinschaft, es gab in der DDR ja kein Vereinsrecht. Aber zu unserem Kreis gehörte auch Dietmar Keller, der damals stellvertretender Kulturminister war und der auch zu Neuerungen entschlossen war. Wir sind dann die ersten gewesen, die beim Kulturministerium einen Antrag auf Vereinsgründung gestellt haben.

DR:

 Und das wurde genehmigt ?

DM

 Es wurde genehmigt. Der Minister hatte selbst dazu geraten, und er gehörte ja zu unserer Runde. Dann ging es politisch hin und her, und es war nicht klar, wie wir uns nennen werden. Dies vor allem, weil inzwischen allenthalben kulturpolitische Reformer sich meldeten und debattierten. Sollten wir die Kulturpolitische Gesellschaft nach westdeutschem Vorbild werden ? Vielleicht eine „Gesellschaft für demokratische Kultur“ ? Schließlich kam es zu einem Gründungskongress mit mehreren hundert Teilnehmern, die alle reden wollten und demokratisches Mitwirken einforderten. Als Kompromiss setzte sich durch, dass wir Kulturinitiative hießen. Und weil einer meinte, es müsste 1989 vorkommen, kam das Jahr dazu. Weil eine große Gruppe das forderte, hießen wir schließlich Kulturinitiative 89 – Gesellschaft für demokratische Kultur – so die offizielle Bezeichnung im Vereinsregister. Namen und Gemeinnützigkeit haben wir dann auch in der Bundesrepublik behalten.

DR

 Ist das Gründungsdatum der 11. November 1989 ?

DM :

 Das ist schwer festzulegen. Die ersten thesenartigen Papiere habe ich im Oktober 1989 in unsere Runde gegeben, dann einige Vorschläge (vor allem die von Helmut Hanke) eingearbeitet, am 6. November verteilt und auf den 11. November zu einer „Beratung über die mögliche Gründung einer kulturpolitischen Vereinigung in der DDR“ eingeladen. Allerdings in kleiner Runde – außer mir nahmen Lothar Bisky, Thomas Flierl, Horst Groschopp und Helmut Hanke teil. Da verständigen wir uns über die Motive der Gründung, über die Verfahrensweise und verteilten die Aufgaben. Unser Programmentwurf ging dann tatsächlich am 11. November an die Community. Unsere - mehrheitlich linken – Freundinnen und Freunde im Westen verfolgten dies mit Interesse, hatten Ratschläge und halfen auch ganz praktisch (vor allem mit Kommunikations-technik). Zu ihnen hatten wir ja schon über Jahre relativ gute Beziehungen, besonders natürlich nach Westberlin.

DR

 An der Universität oder wo ?

DM :

 Dies auch. Aber generell hatten wir ja die alternativen Kulturpraktiken wie die kulturwissenschaftlich mit uns verwandten Kollegen im Westen im Blick, haben uns mit ihnen ausgetauscht und dabei viel gelernt. Westberlin war ja gleich nebenan.

Ein großes Feld bildeten dabei die universitären Kontakte. So waren wir Kulturwissenschaftler im deutsch-deutschen Wissenschaftsabkommen von 1986 zuständig für den großen Komplex Arbeiterkultur. Das war in der Bundesrepublik an mehreren Instituten Thema. Ich war der Koordinator auf DDR-Seite. Allerdings kannten wir uns alle schon länger. Seit Mitte der 1970er Jahre gab es da Austausch, wechselseitige Einladungen zu Vorträgen und Tagungen. So kamen die Experten für Arbeiterkultur bereits im Juni 1985 in Paris zu einer „Zwischenbilanz“ für die Forschungen zu den 1920er und 1930er Jahren zusammen. Eine der vielen Ost-West-Begegnungen. Für uns der Beginn einer Serie von Gemeinschaftsprojekten, die teils bis in die frühen 90er Jahre liefen.

DR

 Können Sie Namen nennen ?

DM

 Da müsste ich eine ganze Reihe von Instituten aufzählen – von Tübingen und Marburg bis nach Bielefeld und Bremen. Wichtiger Partner hier in Berlin war die Hochschule der Künste (HdK), die mit Ulrich Roloff-Momin seit 1977 einen eher linken Präsidenten hatte. Der stand auch der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (NGbK) vor, dem linken der beiden Westberliner Kunstvereine. An der HdK hatten sie Anfang der 70er Jahre die Idee, eine zusätzliche Ausbildung für Künstlerinnen und Künstler zu machen, die ihnen ermöglichen sollte, auch in der kommunalen Kulturarbeit mitzuwirken – als zweites Standbein. Dafür hatten sie ab 1974 eine Finanzierung. Wir hatten 1964 unser Fernstudium Kulturwissenschaft begonnen und inzwischen einige Erfahrungen damit. Und so besuchte uns das ganze Team vom „Modellversuch Künstlerweiterbildung“ – angereist im VW-Bus – zum Erfahrungsaustausch über wissenschaftliche Zusatzausbildung von Praktikern. Ein Kontakt, der über die Jahre für uns immer wieder wichtig sein sollte. Bis hin zu ganz praktischen Dingen – wir ließen einen Tagungsband auf unsere Druckgenehmigung herstellen, die Freunde von der HdK besorgten uns dafür Disketten für unseren PC (der auch aus dem Westen war). Die Ausstellung über Arbeiterfreizeit, mit der wir unser „Museum Arbeiterleben“ im Berliner Festjahr 1987 aufgemacht haben, ging zuerst in die Bundesrepublik. Wir waren damit in Hannover und Bremen und schließlich waren die Ost-West-Beziehungen so weit, dass wir sie im Sommer 1989 sogar in West-Berlin zeigen konnten – eingeladen von unseren Freunden. Ein wichtiger Nebeneffekt mit Zukunft – wie wir damals dachten – war es, dass wegen den damit verbundenen praktischen Aufgaben dann auch die Kollegen „Reisekader“ wurden, die bis dahin etwas neidisch auf die Westreisen ihrer Chefs geblickt hatten.

Nicht nur wissenschaftliche Interessen verbanden uns mit Diethart Kerbs, der an alternativen kunstpädagogischen Konzepten arbeitete und – vor allem für uns wichtig – seine Sammlung sozialhistorischer Fotografien veröffentlichte. Ähnlich verbunden waren wir mit „Jonas“ Geist, der mit seinen Studenten die Geschichte der Berliner Mietskaserne erforschte – drei dicke Bände im Großformat. Dann war da in Westberlin die Redaktion der Zeitschrift Das Argument. Und die Mitstreiter von Wolfgang Fritz Haug behandelten zunehmend kulturelle Themen. Westberlin war auch eines der beiden Zentren der westdeutschen DDR-Forschung. Da interessierte es schon, was deren Fraktionen über uns publizierten. Hartmut Zimmermann – er hat bis 1993 die DDR-Abteilung bei den Politikwissenschaftlern der Freien Universität (FU) geleitet – vertrat eine kritisch-immanente Methode der DDR-Forschung. Noch heute schlage ich in den beiden dicken Bänden des „DDR-Handbuchs“ nach, das er Anfang der 80er herausgegeben hat. Was uns überdies verband : Er war Berliner und seine Eltern im selben Kiez geboren wie meine. Bei ihm verteidigte Volker Gransow die erste Dissertation über die DDR-Kulturpolitik. 1974 hat er sie publiziert – sie war Anlass für wissenschaftliche Kontakte und schließlich für langjährige freundschaftliche Verbundenheit. Hier am Orte waren die Beziehungen zu verwandten Fachkollegen einfacher als zu denen an ferneren westdeutschen Unis, wie Bremen, Bielefeld, Hannover, Marburg oder Tübingen.

Kehren wir nach Berlin zurück. Jenseits der wissenschaftlichen Kontakte waren wir mit (damals) jüngeren Leuten verbunden, die als Nebenjob die Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützten, wenn sie Westberlin-Exkursionen aus dem fernen Westen zu betreuen hatten. Da war meist ein Tag im Osten dabei. Wenn es „kulturell Interessierte“ waren, halfen wir ihnen : Kulturhaus Prater, Becher-Haus in Pankow, Kulturstadträtin Prenzlauer Berg – es gab hier kaum eine kulturelle Einrichtung, in der keiner unserer Absolventen oder Fernstudenten tätig war. Umgekehrt liefen über sie viele Kontakte zu Westberliner Kultureinrichtungen, wie zum Künstlerhaus Bethanien (erst Dieter Ruckhaberle, dann war dort Christa Tebbe als Kunstamtsleiterin Kreuzberg), zur nGbK (Christiane Zieseke), zur Westermann-Kommunikation (Karin Westermann, Ulrich Giersch und Helmut Bien) zur staatlichen Kunsthalle, inzwischen von Dieter Ruckhaberle geleitet. Mit ihm mühte ich mich seit Mitte der 80er, in seinem Haus eine gemeinsame Ost-West-Ausstellung zu Hans Baluschek zu machen. Die wurde aber erst 1992 realisiert, weil es vorher unmöglich war, die Bilder und Dokumente aus Ost (Märkisches Museum) und West zusammenzuführen.

Alle diese Beziehungen haben schließlich zur Rettung unseres Studienganges Kuwi – an der Uni Leipzig wurde er 1990 „abgewickelt“ – beigetragen. Das kam so : Als die Senatorin für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin – es war Barbara Riedmüller, vorher Vizepräsidentin der Westberliner FU – die Entlassung von 3000 Wissenschaftlern der Humboldt-Universität anleitete, gehörten wir auch dazu. Dagegen haben wir – mit logistischer Unterstützung der Westberliner Freunde – einen internationalen Protest mit über 200 Wissenschaftlern und Kulturpolitikern aus dem Westen in Gang gesetzt. Irene Dölling hat ihren Kreis und die Verbündeten der Gender-Forschung aktiviert, Kultursoziologen und Historiker intervenierten, auch aus den USA und Frankreich trafen solidarische Schreiben beim Senat ein.

Als sich der Senat im Januar 1991 neu konstituierte, hatten wir mit Ulrich Rohloff-Momin, der nun Kultursenator war, und mit dem Senator für Familie und Jugend, Thomas Krüger, zwei Fürsprecher, die auf die vielen Proteste verweisen konnten. In der entscheidenden Senatssitzung soll auch gesagt worden sein, Politbüromitglied Kurt Hager würde es wohl nachträglich freuen, dass die Kulturwissenschaft an der Uni abgeschafft werde. Das alles rettete den – immerhin weltweit ersten – Studiengang Kulturwissenschaft. Doch nach kurzer Zeit waren die meisten Professuren von Westdeutschen besetzt.

DR

 Wie kam eigentlich die berühmte „Zwischenrede“, die Rede in der Akademie der Künste im Dezember 1989 zustande ? Man kann bei Ihnen ein wenig dazu in der Internet-Zeitschrift Kulturation nachlesen. Worum ging es da ?

DM

 Sie fand am 22. Dezember, am Freitag vor Weihnachten, in einer dramatischen Situation statt. Drei Tage zuvor hatte Bundeskanzler Kohl bei seinem ersten DDR-Besuch in Dresden gesprochen und Deutschland-Deutschland-Deutschland-Rufe ausgelöst. Dort vereinbarte er mit Modrow, am 22. Dezember das Brandenburger Tor zu öffnen. Und als wir am anderen Ende der Luisenstraße unsere Tagung eröffneten, traf sich die Politprominenz der beiden deutschen Staaten : Kanzler Kohl schritt durchs Tor. Was übrigens den französischen Präsidenten brüskierte : Mitterrand war in diesen Tagen extra nach Ostberlin gereist, um genau dort von Ministerpräsident Modrow begrüßt zu werden. Solche Spannungen deuteten an, dass international noch nicht klar war, ob die „Siegermächte“ Frankreich und Großbritannien einen starken deutschen Staat tolerieren würden, also einer Vereinigung zustimmten. Moskau hatte uns, wie wir hinterher erfuhren, längst abgeschrieben. In dieser unklaren Situation drängten unsere Westberliner Freunde, doch unbedingt ein gemeinsames, ein deutsch-deutsches kulturpolitisches Statement abzugeben und demonstrierten, dass wir in kultureller Hinsicht generell einig sind, wir nach passablen Lösungen suchen und künftig eng zusammenarbeiten wollen.

Ulrich Roloff-Momin von der HdK und Christiane Zieseke von der nGbK luden für die westdeutsche Seite ein, wir für die ostdeutsche. Und trotz des recht ungünstigen Termins wurde der Saal der Akademie übervoll. Moderiert wurde diese Debatte für die Kulturinitiative von der Kabarettistin Gisela Oechelhaeuser und von Ulrich Roloff-Momin für die westdeutschen Freunde. Ein bemerkenswerter Abend. Die Beiträge wurden aufgenommen, liegen verschriftlicht vor und wurden von fast allen autorisiert (nur ein ostdeutscher Redner zog zurück). Man kann alle 35 im Online-Journal Kulturation ebenso nachlesen wie Reminiszenzen prominenter Teilnehmer (http://www.kulturation.de/ki_1_zeitdok.php?id=30). Auch das DDR-Fernsehen hat damals in seinem zweiten Programm darüber berichtet, doch die symbolische Öffnung des Brandenburger Tores und Weihnachten waren dann wichtigere Ereignisse für die Öffentlichkeit.

Doch bald gingen die Debatten wieder los, immer überlagert vom aktuellen politischen Geschehen. Wenn wir zu einem Treffen einluden, wussten wir nicht, ob da 100 kommen oder 1.000. Es war immer sehr voll und die Versammlungen nahmen kein Ende. Es gab nie Mehrheiten für einen Vorschlag. Schließlich konnten wir im Februar 1990 einen Vorstand wählen. Jürgen Marten, der das Forschungsinstitut des Kulturministeriums geleitet hatte, wurde Vorsitzender. Als seinen Stellvertreter wählten wir Friedrich Schorlemmer, damals Dozent am Evangelischen Predigerseminar in Wittenberg. Ein eher repräsentativer Vorstand, bald sollte unsere Geschäftsführung viel wichtiger werden. Denn nachdem die Kulturpolitische Gesellschaft hier ihr Büro aufgemacht hatte, die Deutsche Gesellschaft und weitere Kulturvereine gegründet waren, verebbten unsere Großdebatten und die Kulturinitiative wurde eine überdimensionierte Beschäftigungsgesellschaft. Wir residierten inzwischen am Gendarmenmarkt im ehemaligen Gebäude der CDU-Führung. Da hatten wir nun unsere Büros, weit über hundert Mitarbeiter auf festen ABM-Stellen. Mit Leuten aus Hochschulen, aufgelösten Instituten und Redaktionen, Verlagen und Filmstudios. Wir gaben die herrenlos gewordenen Weimarer Beiträge heraus und publizierten die Mitteilungen aus der Kuwi Forschung (MKF), weil unsere neuen Westkollegen meinten, dass Universitätsinstitute keine eigenen Zeitschriften führen. Wir gründeten auch ein unabhängiges kulturwissenschaftliches Institut.

DR

 Was hat das unabhängige kulturwissenschaftliche Institut gemacht ?

DM :

 Als sein Hauptprojekt hat es den kulturellen Wandel in Ostberlin von 1989 bis 1993 begleitet und in etlichen Detailstudien dokumentiert. Als wir unser Büro aufgeben mussten, wurden die Ergebnisse in 32 großen Umzugskartons gesichert. Wir konnten zunächst die Rosa Luxemburg Stiftung gewinnen, sie in ihrem Archivspeicher zu lagern. Inzwischen sind sie im Bundesarchiv gelandet, wo man uns für die vorbildliche Ordnung des Materials lobte. Das ermöglicht dort wohl bald den Zugriff auf die Dokumente. Einen Teil der Ergebnisse haben wir jeweils aktuell in unseren Mitteilungen veröffentlicht. Leider gibt es davon kaum noch Exemplare. „Kultur in Deutschlands Osten“, „Ostdeutsche Kulturgeschichte“, „Kultureller Wandel in Ostdeutschland“, „Was soll Kulturpolitik“ – so die Titel der um 400 Seiten starken „Hefte“. Die letzte Ausgabe erschien 1996, sie war meinem 60. Geburtstag gewidmet und hatte den bedenkenswerten Titel „Vorwärts und nicht vergessen nach dem Ende der Gewißheit“. Besonders hat mich an dieser Publikation gefreut, dass man am Spektrum der 65 Autoren (auf 660 Seiten) die Verflechtung unserer Kulturwissenschaft mit anderen Disziplinen und anderen Regionen ablesen kann.

DR

 Wie lange gab es dieses Institut für Kuwi ?

DM :

 Nicht sehr lange, nach fünf Jahren war Schluss, da gab es dann keine Mittel für solche Projekte, die ja nur mit geförderten Arbeitsplätzen funktionieren. Und unsere waren als „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ gesichert. Wir waren auch froh, dass es so nicht mehr funktionieren musste, denn viele unserer Mitarbeiter hatten eine andere existenzsichernde Arbeit gefunden und bedurften keiner ABM mehr. 2008 haben wir eine Tagung zur Geschichte unseres Studienganges gemacht, die diesen Trend bestätigte. Grundlage war eine sehr umfangreiche „Verbleibstudie“ (so der Fachausdruck), die Isolde Dietrich in mehrjähriger Arbeit erstellt hatte. Von unseren etwa 1.300 Absolventen hat sie nicht alle mehr aufspüren und auf ihren „Verbleib“ befragen können. Gut 40 Prozent reagierten auf den zugesandten Fragebogen. Was mich beeindruckte : Von den durch die Studie erfassten Absolventen waren nur 3 % aktuell arbeitslos und fast alle arbeiteten in kulturellen Bereichen. Wen es genau interessiert : auf www.kulturation in die Suchfunktion gehen und „Verbleibstudie“ eingeben.

Schließlich haben wir unsere ABM-Unternehmungen aufgegeben. „Förderband“, eine uns freundschaftlich verbundene Beschäftigungsgesellschaft, hat uns dann übernommen ; wir haben längst kein Büro und keine Mitarbeiter mehr, sind inzwischen eine Versammlung vor allem älterer Leutchen. Für Großveranstaltungen, wie unsere „Ostdeutschen Kulturtage“ in den 90er Jahren, fehlen inzwischen Mittel und Kräfte, im letzten Jahrzehnt führten wir nur unsere monatlichen „Kulturdebatten“ fort. Weitergreifende Kommunikation sichern wir über unser Online-Journal Kulturation. Und dann haben wir immer noch unseren fleißigen Arbeitskreis Kulturgeschichte, der gerade sein 25jähriges Jubiläum begeht. Seit Gründung arbeiten wir vor allem an der Kulturgeschichte der DDR. Gerd Dietrich, ein Fachhistoriker aus unserer Runde, hat in diesem Jahr seine dreibändige Kulturgeschichte der DDR herausgebracht – ein opulentes Werk von 2.430 Seiten.

DR

 Also ist Gerd Dietrich auch Mitglied des Arbeitskreises ? Und ist Kulturation aus den Mitteilungen zur kulturwissenschaftlichen Forschung entstanden ?

DM

 Dass Gerd Dietrich in unserer Runde mitwirkt, ist etwas Besonderes. Denn er gehört zu den wenigen „Fachhistorikern“ aus der DDR, die kulturelle Themen bearbeiten. Das war in der Geschichtswissenschaft der alten Bundesrepublik ähnlich. Unsere Beziehungen zu den Volkskundlern oder Ethnologen waren da intensiver.

Das Online-Journal Kulturation ist tatsächlich als Fortsetzung der gedruckten Mitteilungen entstanden. Wir hatten kein Geld mehr für den Druck (die Redaktionsarbeit war ehrenamtlich zu leisten) und suchten nach einer billigen Lösung. Und als unsere stellvertretende Vorsitzende Konstanze Kriese als „Qualifizierungsmaßnahme“ einen Kurs für Digitalisierung besuchte, hat sie als Abschlussarbeit die notwendige Technologie und das Layout für uns entwickelt. Irgendwie genial und einfach ; es funktioniert nach 18 Jahren immer noch. Hat in dieser technischen Variante allerdings keine Zukunft, kann jeden Tag zu Ende sein – bevor wir alle Texte wirklich gesichert haben.

FK

 Wer unterstützt die Zeitschrift Kulturation ?

DM

 Niemand, nur unser Verein. Beim Provider kostet sie 8,50 monatlich. Im Augenblick bin ich der einzige Redakteur, muss redigieren, die Texte, Tabellen und Bilder formatieren, technisch von Frank Götze beraten und unterstützt.

FK

 Es wäre schade, wenn die Zeitschrift nicht mehr erscheinen würde.

DM

 Da ist inzwischen viel Interessantes angehäuft, vor allem zeitgeschichtliches Material. Aber alles hat seine Zeit. Die Zahl der potenziellen Autoren, die wir kennen, wird kleiner. Der von mir hier angedeutete Beziehungsreichtum setzt sich ja nicht fort. Früher folgte eine Studentengeneration der anderen. Doch „meine“ letzten Diplomjahrgänge betreute ich Mitte der 90er Jahre, alle inzwischen auch schon in den Jahren. Zwar habe ich, als ich ab 1996 am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam forschen durfte, noch an der Internationalen Universität in Dresden einige Kurse gegeben und dadurch manche interessante Beziehung geknüpft, aber die kontinuierliche Beziehung zu den Folgegenerationen ist abgerissen.

DR

 Die Zeitschrift lebt doch auch von Aufsätzen und Veranstaltungen.

DM

 Der Kreis der Autoren ist kleiner geworden. Im Wesentlichen sind es Kulturwissenschaftler aus unserer Generation.

DR

 Kommen wir doch jetzt zur Kuwi in der DDR. Ich habe gelesen, was Sie 2008 auf der Tagung gesagt haben : „Wir haben für einen anderen Gesellschaftstyp einen Studiengang eröffnet.“ Es war der erste Kuwi-Studiengang in Deutschland, der mehr oder weniger per Dekret eingerichtet worden ist. Was ist die Kuwi gewesen ? Ist sie eine Kuwi, die dann auch für einen besonderen Gesellschaftstyp gemacht war ? c ja nicht. Oder vielleicht ja und nein ?

DM

 Der Hintergrund der Unternehmung ist ja, dass die sozialistische Gesellschaft im Verständnis ihrer Gründer eine Gesellschaft der Gleichen werden sollte, ein Volk der arbeitenden Menschen, ohne Müßiggänger. Keiner lebt auf Kosten anderer, alle arbeiten, alle können sich nach Maßgabe des gesellschaftlichen Reichtums auch subjektiv entfalten. Das war die Vorstellung. Und tatsächlich ist die DDR ja weitgehend ohne alte Eliten gegründet worden, waren in der DDR die Besitzelite und die Funktionselite, politische wie juristische weg. Nur Ärzte und Pastoren sind aus guten Gründen nicht entlassen worden, es wäre ungeschickt gewesen. Die Besatzungsmacht hat den Austausch der Pastoren nicht erlaubt, wohl wissend, dass in dieser protestantischen Gegend die Pfarrer Untertanen ihrer jeweiligen Landesherren zu sein hatten und nicht wenige von ihnen dies nach 1933 auch mit Eifer gewesen sind – ein anderes Thema.

In der neuen Gesellschaft sollten nun alle die, die ehedem ausgeschlossen waren vom Umgang mit den höheren Werten der Kultur, weil sie ja malochen mussten und ihnen die Mittel fehlten, die ehemals Ausgegrenzten sollten nun Zugang zu allem haben, was ehedem Privileg der Besitzenden war. Sehr anschaulich das Bild aus dem 19. Jahrhundert (wohl ein Titelblatt des „Wahren Jakob“) : im Vordergrund einfache Menschen, die zum „Tempel der Bildung“ auf der lichten Höhe streben.

Die „kulturelle Problematik“, auf die wir reagierten hat eine längere Geschichte, reicht bis 1917 zurück. Bekanntlich hat eine auf die soziale Gleichheit aller ausgerichtete kommunistische Revolution zuerst im rückständigen Russland gesiegt, wo es nur wenige kapitalistisch geprägte städtische Zentren gab, ein Land mit 80 % analphabetischer Landbevölkerung. Lenins Lehrer Plechanow meinte : zu früh, Russland brauche erst noch hundert Jahre Kapitalismus. Leo Trotzki, Chefredakteur der Prawda, meinte, nun stehe eben noch eine Kulturrevolution an. Und er hatte praktische Vorschläge dafür – etwa die Kirche durch das Kino zu ersetzen usw. Denn es ging ja um die Befähigung der „werktätigen“ Massen. Danach war dann Lenin auch für Kultur zuständig und die kulturelle Hebung bald ein Dauerthema.

1957 haben sich dann die kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau auf allgemeine Ziele für sozialistische Länder geeinigt, darunter (ich zitiere) „die Verwirklichung der sozialistischen Revolution auf dem Gebiet der Ideologie und Kultur“. Für die deutschen Linken keine Frage, viele ihrer Funktionäre kamen aus bildungsbürgerlich geprägten Milieus oder begannen ihr politisches Leben in Bildungsvereinen, wie August Bebel. Walter Ulbricht trat mit 15 Jahren einem Arbeiterjugendbildungsverein bei, Wilhelm Pieck war Sekretär des zentralen Bildungsausschusses der SPD. Eine Kulturkonferenz der SED beschloss1960, dass eine wissenschaftliche Ausbildung für Kulturfunktionäre nötig sei.

Dafür gab es bereits Vorläufer. Ein wichtiger Macher auf diesem Felde war Erhard John. Er setzte durch, dass 1958 im Schloss Meißen-Siebeneichen (dort war er vordem Direktor einer Heimvolkshochschule) die erste Fachschule für Klubleiter eröffnet worden ist. Als Alfred Kurella 1954 endlich aus der UdSSR in die DDR übersiedeln durfte, wurde er umfassend kulturpolitisch aktiv und war in der entscheidenden Zeit (1957 bis 1963) Leiter der Kulturkommission des Politbüros der SED. Dort veranlasste er 1960 den Beschluss der SED-Führung, ein kulturwissenschaftliches Studium einzurichten. Zuständig war dann das Staatsekretariat für Hochschulwesen. Zwei Universitäten wurden angewiesen, damit zu beginnen : Leipzig und Berlin. In Leipzig begann Erhard John. Hier ging der Auftrag an das Institut für Philosophie, das beauftragte seine Abteilung Ästhetik damit. Denn für die hiesigen Philosophen war klar, dass es dabei um die Kunst gehe. Diese Vorstellung war allgemein : Hebung des Kulturniveaus verlange, die Werktätigen an die Künste heranzuführen. Vielleicht ein spezifisch deutsches Kulturverständnis, dieser Glaube an die Kunst ist wohl durch die deutsche Klassik vorgeprägt und wurde ein Axiom des bürgerlichen Kulturverständnisses. Ich verweise da auf die große Studie zum europäischen Bürgertum, die der Sozialhistoriker Jürgen Kocka in den 1980er Jahren geleitet hat.

DR

 Das ist interessant, denn eine Kulturrevolution zu machen mit einem solchen bürgerlichen Kulturverständnis ist doch widersprüchlich, oder ?

DM

 Ja, das ist eine widersprüchliche Angelegenheit. Denn in der Sowjetunion verlief das anders : Kulturrevolution verstand man weitgehend als Alphabetisierung. Deshalb schien sie 1936 vielen dort bereits abgeschlossen. Die Alphabetisierung begann in Deutschland viel früher, schon vor der Industrialisierung.

DR

 Dann ist die DDR also einen eigenen Weg in der Kulturrevolution gegangen ?

DM

 Ich bin nicht sicher, ob Kulturrevolution überhaupt das richtige Wort ist. Darunter wurde in den anderen sozialistischen Ländern auch je Spezifisches verstanden ; mit Folgen für Ausbildung und Forschung. Selbstverständlich wurde überall „Kultur“ von Gesellschaftstheoretikern, Philosophen und Ethnologen thematisiert. Die Ausbildung aber gehörte meist zum Feld der Erwachsenenbildung (wie in Ungarn) oder war, wie in der Sowjetunion, die Ausbildung von Klubleitern, war Klubowodenie, so etwas wie Klubleitung, woraus eifrige Übersetzer „Klubwissenschaft“ machten. Aber auch da bin ich nicht sicher, auch mein heutiger Google-Übersetzer meint, dass Клубоведение in anderen Sprachen club science oder Scienza del club bedeute.

Über die sowjetische Klubowodenie hat Heinz Marohn – er war mein ältester Doktorand, wurde 93 Jahre alt und starb vor 4 Jahren – eine zweibändige Dissertation verfasst. In der DDR gab das Zentralhaus für Kulturarbeit in den 70 Jahren 7 Titel unter dem Titel „Klubwissenschaft“ heraus. Die erste Ausgabe definiert sie auch, ich zitiere mal : „Gegenstand der Klubwissenschaft“ ist „das Studium von Gesetzmäßigkeiten der kommunistischen Erziehung der Werktätigen durch eine im Klub organisierte Freizeitgestaltung und Geselligkeit“. (So H. N. Selenezki, ein übersetzter russischer Autor, in dem Aufsatz „Die Klubwissenschaft als spezieller Wissenszweig“. Nachzulesen auf Seite 8 von „Klubwissenschaft I“, Leipzig 1975).

DR

 Aber neben Ihrem Buch „Woher wir wissen, was Kultur ist“ aus dem Jahr 1983, im Verlag der Wissenschaften erschienen, gab es doch in der DDR die „Grundlagen der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie“, das weitgehend von einem sowjetischen Autorenkollektiv verfasst und 1979 bei Dietz erschienen ist.

DM

 Ja. Das sind meist allgemeine Aussagen über Kultur, mit denen sich aber kein Studiengang Kulturwissenschaft betreiben lässt. Die internationale wissenschaftliche Koo peration auf diesem Gebiet war nicht üppig. Dafür gab es die multilaterale Kommission sozialistischer Länder für Probleme der Kultur- und Kunstwissenschaften. Auf Drängen Moskaus sollte sie von Deutschen organisiert werden, Hans Koch wurde zu ihrem Vorsitzenden. Das Hochschulministerium delegierte mich als Vertreter der Universitäten. Unser Institut entsandte auch Doktoranden nach Moskau und Leningrad, nach Prag und Warschau, die uns dann über das dortige kulturwissenschaftliche Selbstverständnis informierten. Verwertbares und Anregendes kam eher von sowjetischen Soziologen und Philosophiehistorikern. Ähnliches gilt für unsere polnischen Nachbarn. Darüber könnten meine Kollegen, die bei uns für die Ausbildungsfelder Kulturpolitik und Kulturarbeit zuständig waren, sicher besser Auskunft geben. Doch zurück zum Gründungsauftrag an das philosophische Institut, der ihn an seine Kunstspezialisten weitergab. Das kam damals auch mir entgegen, als ich 1963 ans Institut zurückkehrte. Denn ich hatte dort studiert, Philosophie und die Nebenfächer – wie man sie nannte – Germanistik und Kunstwissenschaft. Wie andere auch, bin ich danach im Grundstudium Marxismus-Leninismus tätig gewesen, zuerst in Greifswald, später in Sofia. Danach war ich, durch das Hochschulministerium vermittelt, zur Gründung der Kulturwissenschaft wieder am Institut in Berlin. Zunächst als Doktorand, bekam aber bald eine Mitarbeiterstelle (weil ich die Fachrichtungsleitung übernehmen musste). Wissenschaftlich sollte ich herausbekommen, was für uns – lehrpraktisch wie theoretisch – Kulturgeschichte sein könnte. Überdies drückte mir mein Chef Erwin Pracht sein Vorlesungsmanuskript zur sozialistischen Kulturrevolution mit den Worten in die Hand : Das ist jetzt deine Aufgabe.

Wissenschaftliche Orientierung und Lehre waren hier vermischt. Denn es war „Material“ zu finden, mit dem wir zukünftigen Kulturfunktionären oder bereits tätigen Kulturdezernenten, Theaterintendanten, Studioleitern, Feuilletonredakteuren etc. wissenschaftlich etwas Brauchbares bieten konnten. Dazu teilten wir uns in die Abteilungen Ästhetik und Kulturtheorie. Unser Institut nannte sich „Kulturwissenschaft“, obwohl es die nur als Studienfach und nicht als wissenschaftliche Disziplin gab. Wir bastelten zwar an einer Kulturtheorie und haben sicher auch wissenschaftliche Aspekte behandelt, die vor allem praktisch wichtig waren. Da kam uns zugute, dass die Frühschriften von Marx und Engels zugänglich waren. Schon während des Philosophiestudiums hatte ich Vorlesungen bei Auguste Cornu über die Quellen des Marxismus. Er war Korse und belehrte uns, dass ein Genie nichts aus sich selbst schöpfen könne. Wir haben bei ihm eine Historisierung des Marxismus versucht. Prägend für das Gesellschaftskonzept war zu dieser Zeit das Basis-Überbau-Modell. Kultur gehört zum Überbau, ist Reflex der Basis und wirkt auf die Basis zurück. Nach diesem Schema – Materie und Bewusstsein – hatten wir die Grundlagen erlernt. Übertragen war das der Unterschied zwischen geistiger und materieller Kultur (was die Ethnografen anders verstanden : materielle Kultur sind für sie die Geräte usw., geistige Kultur, die Folklore usw.).

Wir versuchten damals ein anderes Schema, die Subjekt-Objekt-Dialektik. Kultur begegnet uns in zweierlei Gestalt : als subjektives Vermögen von Individuen (aber auch von Gruppen etc.), sich in ihrer sozialen Umwelt zu behaupten, erfolgreich zu handeln, zu kommunizieren, sich selbst zu begreifen. Und Kultur nennen wir alles das, was sie in ihrer Umwelt vorfinden, sich aneignen und damit ihre Subjektivität ausbilden. Kultur hat danach zwei Daseinsweisen, als Objektivationen und als die vielen menschlichen Subjekte. Danach ist objektive Kultur alles das, was über das aneignende Subjekt wirksam wird oder werden kann, durch sein Denken, Handeln, Fühlen. Damit blicken wir auf die „selbstverständliche“ Lebenswelt der Menschen, haben zweitens dann die besonderen Medien und Institutionen im Blick, die die vorne hmliche Funktion haben, auf Menschen einzuwirken, wie die der Künste, Religionen und Erziehungsprogramme. Drittens gehört dazu der spezielle „Überbau“ dieser kulturellen Institutionen, die Ideen und Motive, von denen sie geleitet werden. Das wurde unser dreistufiges Grundmodell, nachdem wir unsere Forschungen sortierten und auch die Lehre einzurichten bemüht waren.

FK

 Welche Rolle wurde dem Individuum zugewiesen ?

DM

 Die Individuen sind das Zentrum, das Entscheidende an diesem Modell. Was sie nicht erreicht, was sie nicht brauchen, nicht annehmen, das existiert für sie nicht. Kultur existiert auf Dauer immer nur objektiv und subjektiv zugleich. Subjektiv in Gestalt aller Menschen, eines Milieus, einer Klasse, einer Gesellschaft. Kultur ist also in uns, ist das, was wir wissen, was wir können, was wir wollen – regelt unser Verhalten. Umgekehrt existiert es objektiv, ist der gestaltete Raum, in dem wir uns bewegen, ist das Zeitregime, in dem wir uns einrichten, ist die Familienstruktur, in die wir hineingeboren werden, die Konflikte, die wir bewältigen müssen usw. usw. Die ganze Gesellschaft in den Seiten, die das handelnde Individuum erlebt. Insofern sollte es das Zentrum unserer Theorie sein.

DR

 Aber ist das nicht schon problematisch gewesen in der DDR, denn dies geht ja doch weg von einer deterministischen Position ?

DM

 Nein, überhaupt nicht. Es teilt zunächst ja nur mit : wie sich die Menschen verhalten, muss als ihre jeweils ganz subjektive Reaktion auf vorgegebene Lebensbedingungen verstanden werden, auf die objektive Lebenswelt, in der sie sich bewegen und die sie dabei verändern.

Und so haben wir unsere kulturwissenschaftliche Ausbildung in verschiedene Gebiete aufgeteilt, in denen jeweils versucht wurde, möglichst viel Material aus anderen Disziplinen für unser Anliegen zu mobilisieren. Das ging einmal um den Strukturwandel in den Lebensbedingungen moderner Gesellschaften (also in sozialhistorische und soziologische Richtung). Dann ging es um einen Überblick über das System der kulturell wirksamen Institutionen, um seinen Wandel und seine Relevanz für verschiedene soziale Milieus (eingeschlossen deren Selbstverständnis). Und schließlich war zu klären, was da auf subjektiver Seite abläuft, wie objektive Kultur zu subjektiver wird. Dieses Spezialgebiet hat bei uns Irene Dölling bearbeitet und ihre Ergebnisse in mehreren Büchern publiziert. Sie hat die diversen „Persönlichkeitstheorien“ angeschaut, nachgesehen was russische und französische Autoren darüber dachten, was uns Bourdieu sagt, was der „soziokulturelle Ansatz“ (Wygotski) für uns hergibt, was wir bei der Kritischen Psychologie lernen können. Und dabei konnte man im Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaften schon mit ideologischen Vorurteilen in Konflikt geraten. Als Irene ihre Dissertation fertig hatte, wurden gerade unsere Germanisten als Abweichler kritisiert, weil sie Begriffe wie Individualisierung und Interiorisation in die Literaturwissenschaft eingeführt hatten. Da war große Aufregung und ich musste meine Kollegin davon überzeugen, dass wir die Verteidigung ihrer Arbeit etwas hinauszögern sollten. Das war nicht leicht, war sie doch zu Recht vom wissenschaftlichen Wert ihrer Ergebnisse überzeugt. Aber wären wir in den Strudel dieser ideologischen Debatten geraten, hätte die Fakultät die Dissertation zurückgezogen und nach den geltenden Regeln hätte Irene danach nur eine neue Arbeit einreichen können. Nach einigen Monaten war Interiorisation kein Schreckgespenst mehr und die Dissertation wurde sehr erfolgreich verteidigt.

DR

 Das meinte ich vorhin. Ich finde, dass Kuwi, so wie sie dann betrieben wurde, viel dazu beigetragen hat, sehr holzschnittartiges Denken aufzubrechen.

DM

 Wenn ja, dann schließt das unsere Kollegen von der Abteilung Ästhetik ein. Denn sie konnten ohne einen solchen Ansatz auch den „Kunstprozess“ nicht erklären. Das sollten am Ende auch ambitionierte Funktionäre verstehen, die die Aufgabe der Künste in der Erziehung zu vorbildlichem Verhalten sahen.

Für uns war es nun wichtig, unser Modell an einem realen Gesellschaftskörper auszuprobieren. Da lag es nahe, dafür die uns gut bekannte eigene Gesellschaft auszuwählen. Doch stießen wir auf zwei Schwierigkeiten. Einmal fehlten uns die Daten einer entwickelten Sozialforschung. Als ich in den 50ern studierte, galt die Soziologie noch als eine spätbürgerliche Verirrung. Damals war für uns der historische Materialismus die Soziologie des Marxismus. Das änderte sich bekanntlich und die Soziologen haben viele innere Gesellschaftsprozesse untersucht. Aber ihre Ergebnisse waren selten verfügbar und entsprachen nicht unserer Frageweise, unseren Problemstellungen. Also haben wir uns eine soziale Gruppe ausgewählt, zu der es die meisten publizierten Sozialstudien gab : nämlich die deutschen Arbeiter zwischen 1860 und 1914. Für diesen Zeitraum hat vor allem der 1873 gegründete Verein für Sozialpolitik untersuchten lassen, wie Arbeiter leben und sich verhalten. So teilten wir uns dann auf : Wir untersuchten einmal die Lebensweise : neue Arbeitsverhältnisse, neue Arbeitsbedingungen im Übergang vom Handwerk zur Manufaktur, zur Fabrik. Was ist ein Fabrikarbeiter, wie ist sein Marktverhalten, seine Familiensituation, wie veränderte sich das Zeitverhalten, die Wohnweise, Kneipe und Alkohol ? Wir haben Dissertationen für alle diese Bereiche vergeben. Aus diesem Alltagsleben ist die Arbeiterkulturbewegung hervorgegangen : vom Bildungsverein über den Sport bis zum Chorgesang. Auch dies war ein eigenes Untersuchungsfeld. Und dann die Kultur der Arbeiterbewegungen selbst, die aus Arbeitern gesellschaftliche, vor allem politische Akteure machte. Dies war zwar rückwärtsgewandt, schulte aber durchaus den Blick auf die aktuelle Situation. Die Kultur des eigenen Landes wurde nur in Schwerpunktthemen, meist kombiniert mit studentischer Forschung behandelt. So zum Freizeitverhalten (ein UNESCO-Projekt), zur Generationenfolge, zum Wandel der Geschlechterrollen und zum Sexualverhalten, diverse Themen zum Umgang mit den Künsten usw.

Aber eine übergreifende Darstellung der Kultur der eigenen Gesellschaft ist daraus nicht geworden. Das war schon wegen der begrenzten Kapazität nicht möglich.

DR

 Dazu die Frage : Hat es nicht die Idee gegeben, auch andere Länder zu untersuchen ?

DM

 Ein wenig schon. Wir hatten ja auch eine Abteilung für internationale Kulturprozesse mit dem Schwerpunkt Schwarz-afrika (heute sicher ein zu Recht verfemter Begriff – wir sagen jetzt subsaharisches Afrika), wir haben an UNESCO-Studien zum städtischen Freizeitverhalten in einigen europäischen Ländern und an einer ähnlich dimensionierten Untersuchung kommunaler kultureller Einrichtungen teilgenommen. In beiden Fällen mit vielen Studierenden.1986 haben wir eine internationale Freizeitkonferenz veranstaltet und dabei auch unsere aktuellen und historischen Studien vorgestellt.

Aber wir waren ein kleines Grüppchen junger Leute an einer Universität und kein großes Akademie-Institut, das nur für die Forschung lebt.

Auch für unser Projekt „Arbeiterkultur“ kam die Unterstützung erst nach und nach. In der Mitte der 80er Jahre war da ein Boom auf beiden Seiten der Grenze und „Arbeiterkultur“ kam in das deutsch-deutsche Wissenschaftsabkommen.

Und wir wagten uns mit der Arbeiterkulturforschung in die 20er Jahre. Dies schon in einem deutsch-deutschen Projekt. Zusammen mit Adelheid von Saldern (sie hatte den Lehrstuhl für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover inne) stellten wir 1986 bei der Volkswagen Stiftung einen Förderantrag für ein Projekt zur Massenkultur des 20. Jahrhunderts. Nach spannenden Debatten hatten wir unser Konzept 1989 fertig und planten dazu zwei Konferenzen. Die erste fand 1990 in Hannover statt und brachte ein breites Spektrum an Beiträgen. 18 davon sind 1992 zusammen mit unserem Konzept „Kontinutät und Wandel der Arbeiterkultur“ in den Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung Nr. 30 publiziert worden. Die zweite Tagung konnte nicht mehr stattfinden, unser Institut war gewandelt worden.

Die Debatten um die Kultur der 20er Jahre haben uns damals noch aus einem anderen Grunde sehr bewegt. Die Akademie-Historiker arbeiteten zu dieser Zeit an dem Band deutscher Geschichte, der die Weimarer Republik umfasste. Wir waren gebeten worden, uns zu Teilen des Manuskripts zu äußern. Das taten wir auch und haben unsere Eindrücke auf einer entsprechenden kleinen Tagung im Haus an der Prenzlauer Promenade vorgetragen. Ganz unbekümmert meinten wir, es müsse doch gesagt werden, dass keine der linken politischen Kräfte (Münzenberg nahmen wir aus) ein Konzept für den Umgang mit der neuartigen Massenkultur hatte und dies zu den Ursachen für den schließlichen Sieg der Nationalsozialisten gehört. Das war zu kess von uns, berührte wohl die Schuldfrage und wir wurden des Saales verwiesen.

Ich erwähne das alles als Beleg dafür, dass wir noch versuchten, mit unseren Forschungen in die 1920er Jahre zu kommen. Sie sind kulturell ja der Schlüssel für das Verstehen der Nazizeit und dann auch für die Nachkriegszeit, in der ja versucht wurde, an die Weimarer Republik anzuknüpfen und sie zugleich zu überwinden. In den 20er Jahren änderte sich das Bild der Industriegesellschaft, das prägend für die Akteure in beiden Teilen Deutschlands war. Worauf wir hinaus wollten : Die DDR hatte es wunderbar geschafft, eine sozialistische Industriegesellschaft dieses Typs aufzubauen. Die darüber hinausweisenden kulturellen Tendenzen aber sind kaum begriffen worden. Das hat sich inzwischen erledigt. Und dies, weil sie nicht fähig war, die nächste Entwicklungsstufe zu meistern, weder ökonomisch, noch politisch, noch kulturell, weil sie in eine Wirtschafts- und Politikgemeinschaft eingebunden war, die generell diesen Übergang nicht schaffen konnte.

FK

 Was haben Sie von der Feier 1987 gehalten ? Von der Folklore, die da aufgeführt wurde. In Frankreich hat man uns Bilder gezeigt von der 750 Jahrfeier in Berlin.

DM

 Ich habe in Erinnerung, dass es ein gewisses Aufsehen gab, weil am offiziellen Festzug auch lockere Kabarettisten, leicht bekleidete Showtänzerinnen und nackte Akteure der Freikörperkultur mitwirkten und Erich Honecker ihnen fröhlich zuwinkte. Es war wohl der Versuch unserer Eventregisseure, das übliche steife Festtagsritual etwas aufzulockern. Ich habe keine Ahnung, ob das mit der Prominenz auf der Tribüne vorher abgestimmt war. Uns hat an diesem Jubiläum etwas anderes interessiert. Es war ja ein Wettstreit zwischen Ost- und Westberlin, von dem wir und unsere Freunde in Westberlin profitierten. Und dies schon in den Jahren davor. Ulli Giersch und Helmut M. Bien bereiteten mit ihrer Ausstellung „Die Reise nach Berlin“ die Wiedereröffnung des Hamburger Bahnhofs als Museumsort vor. Wir konnten – gemeinsam mit unseren Freunden von der Volkskunde – das erste Museum zur Geschichte der Arbeiterkultur aufbauen. Für diese Teamarbeit bekamen Wolfgang Jacobeit und ich gemeinsam den Museumspreis. Es war auch die Anerkennung für eine langjährige Zusammenarbeit, auch unserer Studenten. Vor allem bei Forschungen zum Alltagsleben einfacher Leute in Berlin. Ich besitze ein schönes Foto von 1986, das die Teilnehmer unserer Freizeitkonferenz vor dem noch nicht eröffneten Museum in der Husemannstraße zeigt. Sie hatten sich die fast fertige Ausstellung zur Arbeiterfreizeit angeschaut. Eine Erinnerung, denn dieses Museum für Arbeiterkultur überlebte die deutsche Einheit nicht.

DR

 Zur Frage Kulturwissenschaft als Disziplin. Da gibt es ja sehr unterschiedliche Auffassungen. Manche sagen Kuwi ist eine Disziplin, andere sagen es ist eine Forschungsrichtung. Wie haben Sie das gesehen ? Neben der Theorie gab es bei Ihnen ja doch auch mehrere Wissenschaften, Sozialforschung, Soziologie, Historiker. Wo situiert sich diese Disziplin Kuwi ? Braucht die Kuwi mehrere Disziplinen, ist sie per se multidisziplinär oder fungiert sie als Brücke zwischen verschiedenen Disziplinen oder ist sie an den Rändern situiert ? Ist sie eher durch einen Blick und nicht durch einen Gegenstand und Methoden charakterisiert ? Das ist auch eine aktuelle Diskussion in Frankreich.

DM

 Sie haben da schon das ganze Spektrum an Problemen angedeutet. Man kann da von verschiedenen Seiten herangehen. Von meiner Ausbildung her läge es nahe, nach der Stellung im System der Wissenschaften zu fragen, die philosophischen Fragen vom sozialwissenschaftlichen Interesse zu unterscheiden usw. Ich bevorzuge aber – mehr berufsbedingt – vom System der Ausbildung und der Berufe auszugehen, das ja ein gewisses Abbild der, wie wir in der DDR sagten, „gesellschaftlichen Bedürfnisse“ ist. Unser politischer (wie auch innerer) Auftrag war es, wissenschaftliche Bildung für die Praxis zu generieren, für Leute zu machen, die im Kulturbereich Verantwortung tragen. Und diesen Kulturbereich verstanden wir sehr weit – wie er real auch war. Zur Ausbildung gehörte das Kulturmanagement : Wie wird so etwas organisiert, geleitet, finanziert, rechtlich usw. Das ist ein eigener Bereich. Dann gehört dazu auch eine bestimmte Kenntnis der politischen Zusammenhänge, kulturelle Prozesse und Politik, eine sozialwissenschaftliche Kenntnis, wie die Leute leben, was sie wollen etc., simple Empirie bis Theorie der Lebensweise usw. und dann : Kenntnis von Wissenschaftsgeschichte, wo kann man sich seine Informationen holen. Diejenigen, die heute speziell für den „kulturellen Bereich“ ausbilden, sind auch ganz breit gefächert. Bemerkenswert ist, dass wir heute an fast allen universitären Disziplinen und Fachhochschulen ganz verschiedene kulturelle Teildisziplinen und Arbeitsgruppen finden. So ist es recht schwierig, die Kulturwissenschaft als eine selbständige Disziplin irgendwo festzumachen. Sie ist in Bewegung, und das ist auch eine Ursache dafür, dass ungefähr ein Drittel alle jungen Leute einen irgendwie kulturellen Beruf ausüben wollen. Die Zahl der Studiengänge ist enorm gestiegen. Es gibt heute keinen Überblick mehr, wo heute wie Kulturwissenschaft betrieben wird.

Ich habe mir einige Bücher angesehen, die einen solchen Überblick versprachen. Mich interessierte, wo sind noch Marxisten am Werk und las, dass solche linke Kulturwissenschaft nur noch in Japan oder in den USA weiterlebt. Was mich einst anregte, ist vorbei : Von den Birminghamer Cultural Studies ist nichts übrig, die französischen Historiker sind längst auf anderen Wegen und von den deutschen kulturaffinen Sozialhistorikern ist auch nicht mehr viel zu lesen – so das Raisonnement eines alten Mannes.

DR:

 Woran erkennen sie denn eine linke oder marxistische Kulturwissenschaft ?

DM:

 Wenn Kulturwissenschaftler die „Lebenstätigkeit“ menschlicher Subjekte als Kern der Kulturprozesse sehen, stoßen sie zwangsläufig auf soziale Differenzierungen aller Art und begreifen schnell, welche davon die prägenden sind. Eine linke Kulturwissenschaft erkenne ich daran, dass sie die sozialen Differenzierungen nicht nur (was Wissenschaft ja muss) sachlich zur Kenntnis nimmt, sondern auch die „soziale Frage“ sieht und überdies vielleicht sogar nach Antworten darauf sucht. Vielleicht sind Kulturwissenschaftler sogar besonders geeignet, die sozialen Kräfte auszumachen, die durch ihre Lebenssituation genötigt und befähigt werden, die uns bedrängenden globalen Probleme zu lösen. Die nationalen Ressentiments, mit denen im heutigen Europa auf soziale Differenzierungen reagiert wird, dürften sie aber nur in Kooperation mit Fachleuten anderer Disziplinen erklären können. Allerdings werden auch die Experten für Politik und Wirtschaft ohne kulturwissenschaftliche Hilfe zu keinen brauchbaren Ergebnissen kommen.

FK

 Was Ihnen recht gibt, was mir auch beim Lesen des Interviews aufgefallen ist : Wir haben in Frankreich die Gelbwesten. Man erkennt jetzt, dass es eine Lücke gegeben hat. Niemand hat sich mit diesem kulturwissenschaftlichen Problem beschäftigt. Jetzt protestieren die Leute, weil sie einfach nicht verstanden worden sind.

DM

 Ähnlich ist das wohl auch hierzulande. Ich sehe in der AFD vor allem zwei Milieus vertreten, die im Lebensalltag gar nicht miteinander verbunden sind, sich aber beide nicht richtig eingebunden fühlen können. Einmal ältere Akademiker, abgehängte Journalisten, Advokaten und Politiker, ohne ersprießliche Position in ihren jeweiligen Eliten. Und dann Männer in mittleren Jahren, denen es nicht schlecht geht, die aber verunsichert sind : die beruflich Position ist nicht zu-kunftssicher, die Rolle des männlichen Bestimmers ist lädiert, Tausende junge Männer wandern zu und zelebrieren vor ihren Augen ein recht anspruchsvolles Männlichkeitsbild, wollen aber von uns ausgehalten werden und die Politiker machen was sie wollen ! Wie soll man sich in dieser offenen Welt noch zurechtfinden und heimisch fühlen ?

FK:

 Sie haben geschrieben : Der Kulturwissenschaftler hat einen skeptisch relativierenden Blick. Das fand ich zutreffend.

DM

 Es ist schon so, wer kulturelle Eigenheiten untersucht, kommt kaum in die Versuchung, absolute Gewissheiten zu verkünden. Eines unserer Ausbildungsziele war es, den Absolventen Techniken zu vermitteln, mit denen sie danach fragen konnten, warum es so ist, wie es ist. Sie also nicht zu Kulturbringern oder Erziehern zu bilden, sondern sie zu bestärken, fragend auf ihr Leben und das der anderen zu blicken. Und durch ihre Arbeit anderen den relativierenden Blick zu ermöglichen. Klingt etwas pathetisch, denn Zweifel und Mäßigung sind ja in allen Wissenschaften wichtig.

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2545-3858
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