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Im Westen nichts Neues? Cultural Studies in Frankreich im 21. Jahrhundert – eine Sammelrezension

   | Apr 22, 2019
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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
Kulturwissenschaften – Histoire culturelle – Cultural Studies: Konzeptionen, Debatten/Des conceptions en débat

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Frankreich kann auf eine lange und reiche Genealogie im Bereich der Erforschung des ‚Kulturellen‘ zurückblicken. Man denke etwa an die prestigereichen und institutionell etablierten Fachbereiche der Kulturanthropologie, der Kultursoziologie und natürlich an die französische histoire culturelle als eine „histoire sociale des représentations“ (Poirrier 2008). Zahlreiche dieser französischen human- und sozialwissenschaftlichen Ansätze wurden sogar, und zwar außerhalb Frankreichs (ein typisches Rezeptionsphänomen), zu einer French Theory gebündelt, die international – d.h. besonders transatlantisch und nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum – rezipiert wurde. Ihrerseits beeinflusste sie den cultural turn der 1970er Jahre, welcher wiederum eine globale kulturwissenschaftliche Erneuerung zahlreicher Disziplinen herbeiführte.

Gegen Ende der 1980er Jahre begann eine große Internationalisierungsbewegung der anglophonen Cultural Studies, die allerdings in Frankreich wenig wahrgenommen wurde – anders als in anderen frankophonen Kontexten. Zwar gibt es in Frankreich seit über zwanzig Jahren Verteidiger_innen der études culturelles an akademischen Institutionen. Fachübergreifende Studiengänge wurden gegründet und wissenschaftliche Publikationen fanden unter diesem Oberbegriff statt (siehe z.B. Darras 2007). Doch trotz dieser Tradition sind die Kulturwissenschaften als eigenständiger – allerdings interdisziplinärer – Wissensbereich in Frankreich lange unterrepräsentiert geblieben. Dies mag u.a. daran liegen, dass die Strukturierung der französischen Universitäten ‚etablierte‘ disciplines bevorzugt und fachübergreifende Programme dadurch eine erschwerte Institutionalisierung erleben. Außerdem werden in Frankreich Entwicklungen aus dem anglophonen Raum nicht selten mit einem gewissen Misstrauen rezipiert, was wiederum transatlantische Transfer- und Rücktransferphänomene erschwert. An den Universitäten Lille, Montpellier, Nancy, Paris 1 (Panthéon-Sorbonne), Paris 8 (Saint-Denis) werden tatsächlich études culturelles als solche unterrichtet. Doch an den meisten französischen Hochschulen und Universitäten verstecken sie sich unter den ‚etablierten‘ Disziplinen. So findet man Vertreter_innen der Kulturstudien in der französischen Anglistik (und in anderen Arealstudien wie etwa der Germanistik oder der Hispanistik), in der Literaturwissenschaft (besonders in der vergleichenden Literaturwissenschaft oder Komparatistik), in der Geschichtswissenschaft, in den Medienwissenschaften, in der Soziologie, in den Theaterwissenschaften usw. Doch die Bezeichnung études culturelles birgt eine terminologische Unschärfe: In welchem Zusammenhang standen und stehen die ‚französischen‘ études culturelles zu den international anerkannten kulturwissenschaftlichen Ansätzen, allen voran den anglophonen Cultural Studies? Hier sei gleich vorab bemerkt, dass kulturwissenschaftliche Ansätze aus dem deutschsprachigen akademischen Raum in Frankreich leider sehr wenig rezipiert werden – trotz der beharrlichen Bemühungen französischer Deutschland-Spezialist_innen (Farges / François 2013; Möser 2013; Chalard-Fillaudeau 2015).

Eine große wissenschaftliche Veranstaltung hatte den Anspruch, diese Situation zu ändern und den französischen Kulturwissenschaftler_innen eine gewisse internationale Sichtbarkeit zu verleihen. So fand im Juli 2012 in Paris der 9. internationale Kongress der Association for Cultural Studies (ACS) statt: „Crossroads in Cultural Studies“. Auf lokaler Ebene wurde die Veranstaltung von der besonders humanwissenschaftlich orientierten Universität Sorbonne Nouvelle und dem Universitätsverbund Sorbonne Paris-Cité in Partnerschaft mit der UNESCO getragen. Neben international anerkannten Keynote-Vortragenden aus den anglophonen Cultural Studies – u.a. Sara Ahmed, John Nguyet Erni, Jeremy Gilbert, Paul Gilroy, Lawrence Grossberg, Bobby Noble, Phaedra C. Pezzullo oder Sonjah Stanley Niaah – waren frankophone Akademiker_innen aus verschiedenen Wissensbereichen – wie etwa der Soziologie, der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, den Filmstudien oder der Literaturwissenschaft – eingeladen worden, deren Forschung eine gewisse Affinität mit den Cultural Studies zeigte: Hier seien Paul F. Bandia, M.-H./Sam Bourcier, Geneviève Fraisse, Nacira Guénif-Souilamas, Eric Macé, Eric Maigret, Jacques Rancière, Geneviève Sellier oder Françoise Vergès genannt.

Der Kongress war im frankophonen Bereich ein wichtiger Meilenstein in der Auseinandersetzung mit den Cultural Studies. Seitdem sind nämlich zahlreiche Publikationen in diesem Bereich in französischer Sprache erschienen, die von einer jüngeren Generation von Wissenschaftler_innen stammen, von denen viele an der Tagung teilnahmen. In der vorliegenden Sammelrezension wird ein – zwangsläufig partieller – Überblick dieser Entwicklungen seit 2012 gegeben.

Bemerkenswert ist zunächst, dass diese Publikationen ausdrücklich auf die Birminghamer Schule des Centre for Contemporary Cultural Studies Bezug nehmen.

1964 wurde das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) unter der Leitung von Richard Hoggart an der University of Birmingham gegründet. Zu den Forschungsobjekten des CCCS gehörten besonders Subkulturen, Popkulturen, Arbeiterkulturen sowie die Massenmedien.

Vielleicht liegt die Attraktivität der Birminghamer Cultural Studies in Frankreich gerade an ihrer transversalen und ‚indisziplinierten‘ Positionierung – zwischen Strukturalismus und Materialismus, zwischen politischer Ökonomie und kulturellem Ansatz und an der Schnittstelle von Soziologie, Kulturanthropologie, Philosophie, Ethnologie, Literatur, Kunst usw. Dies unterstrichen bereits vor einem Jahrzehnt die ersten französischen Publikationen, die explizit auf die britischen Cultural Studies Bezug nahmen (siehe Mattelart/Neveu 2003; Darras 2007; Glévarec/Macé/Maigret 2008). Ein Merkmal der Cultural Studies liegt tatsächlich darin, disziplinäre Logiken abzulehnen, um somit hergebrachte Denkweisen zu hinterfragen. Die ‚neue‘ Generation französischer Vermittler_innen der Cultural Studies unterstreicht außerdem die stark kritische – ja zuweilen radikale – Dimension der Birminghamer Schule, insbesondere in Bezug auf die Massenmedien, den Rassismus, die Genderbeziehungen, die ‚Politiken der Differenz‘ und im Allgemeinen auf die Beziehungen zwischen (Protest-)Kulturen und Macht. Kultur wird demnach als Ideologie betrachtet, die ihre eigene Logik und ihre spezifischen Träger hat. Ebenso wird hinterfragt, was genau im kulturellen Bereich ‚Konsens‘ ausmacht.

Mit anderen Worten: Die Cultural Studies erleben seit einigen Jahren eine beschleunigte Rezeption und ‚Translation“ in Frankreich. Es sind also ‚neue‘ französische études culturelles entstanden, deren Einzug in die französische Universitätslandschaft inzwischen nicht zu übersehen ist. Prägnante Themen sind in diesem Bereich die Identitätspolitiken, Gender, Sexualitäten, Dekolonialismus sowie die neuen Technologien. Besonders dynamisch erscheint diese Entwicklung in den französischen Informations-, Kommunikations- und Medienwissenschaften, in denen viele der jüngeren französischen Vermittler_innen der Cultural Studies akademisch verortet sind, beispielsweise Maxime Cervulle, Marion Dalibert, Virginie Julliard, Stéphanie Kunert, Nelly Quemener oder Florian Vörös.

Eine entscheidende Rolle in diesem Rezeptionsprozess spielte (und spielt) die Übersetzungs-, Editions- und Publikationstätigkeit, in der Frankreich einen großen Nachholbedarf hatte. Hier kann man besonders die Politik des Pariser Verlags Editions Amsterdam hervorheben, der in den letzten Jahren zahlreiche kulturwissenschaftliche Schlüsseltexte aus dem anglophonen Bereich einer frankophonen Leserschaft zugänglich machte. So wurden wichtige Texte, etwa des Soziologen und Mitbegründers der britischen Cultural Studies, Stuart Hall, übersetzt (Hall 2013und 2017). Auch andere, international anerkannte und mittlerweile „kanonische“ Autor_innen aus dem Bereich der anglophonen Kulturstudien konnten dank der Editions Amsterdam in Frankreich rezipiert werden: Jaspir K. Puar (2012), Raewyn Connell (2014), Feona Attwood (in Vöros 2015), Richard Dyer (in Vörös 2015), Linda Williams (in Vörös 2015), Judith Butler (2016) oder Paul Gilroy (2017).

Stellvertretend für diese Entwicklung ist etwa das von Maxime Cervulle und Nelly Quemener verfasste Handbuch der Cultural Studies für Studierende (Cultural Studies. Théories et méthodes), das 2015 ursprünglich in der „128“-Handbuchreihe des Verlags Armand Colin erschienen ist. Nun steht seit Juni eine zweite, verlängerte und ergänzte Ausgabe im Verlag Armand Colin vor: Dies zeugt von der aktuellen Resonanz des Themas. Das Buch nimmt Bezug auf die derzeitige akademische Landschaft in Frankreich und gibt einen synthetischen Überblick über die zahlreichen Forschungsfelder, die sich im Zuge der Cultural Studies entwickeln konnten. Der Band berichtet über den theoretischen wie methodologischen Beitrag, den letztere zu den Sozial- und Humanwissenschaften leisten können. Beide Autor_innen unterstreichen insbesondere die stark theoretische und kritische Agenda der Cultural Studies, so wie sie zwar bereits in Birmingham gefordert, aber im Zuge der Internationalisierung und Verbreitung der Cultural Studies oft beiseitegelassen wurde. Sie wollen außerdem mit diesem kurzen Buch dem Bild der Fragmentierung und Zerstreuung, das den Cultural Studies manchmal anhaftet, entgegenwirken und zeigen, dass die Cultural Studies ein Ort zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen marxistischen Strömungen waren – und sind. Dieser Dialog müsse – so die Autor_innen – nunmehr fortgesetzt werden: Deshalb setzt das Buch den Akzent besonders auf das radikale, materialistische, antikapitalistische, feministische, queere und dekoloniale Potential kulturwissenschaftlicher Analysen.

Noch weiter in diese Richtung geht der von denselben Autor_innen und Florian Vörös herausgegebene Sammelband, Matérialismes, culture & communication. Cultural Studies, théories féministes et décoloniales, das 2016 erschienen ist. Die substanzielle Einleitung von Maxime Cervulle, Nelly Quemener und Florian Vörös unterstreicht zunächst die komplexe Verquickung der feministischen, ‚situierten‘ Epistemologien mit dem Marxismus. Situiertes Wissen – ein zentraler, von Donna Haraway im Sinne einer ‚feministischen Objektivität‘ geprägter Begriff, der in den 1980er Jahren das Paradigma kritischen Denkens grundlegend zu erneuern versuchte – bedeutet nämlich, dass die soziale Verortung und die kontextbedingten Aspekte der Produktion von Wissen im Laufe des Forschungsprozesses mit reflektiert werden müssten, zumal sozial privilegierte Akteur_innen selbst selten ihren privilegierten Standpunkt reflexiv betrachten. Die Autor_innen ziehen eine Parallele zwischen der feministischen Auseinandersetzung mit der Wissensproduktion und den komplexen marxistischen Ausführungen eines Antonio Gramsci über Hegemonie und Hegemonialmacht. Auch die für postkoloniale Kulturwissenschaften zentrale Idee eines ‚subalternen Bewusstseins‘ wird in zahlreichen Beiträgen reflektiert. Im weiteren Verlauf des Buches verfolgen 18 Beiträge die verschiedenen Bezüge zwischen feministischer, postkolonialer Theorie und den materialistischen Ansätzen in den Kultur- und Kommunikationswissenschaften. Die Kapitel konzentrieren sich jeweils auf Autor_innen oder Denkströmungen, die zur Erneuerung der Konfrontation zwischen Kulturwissenschaften und Materialismus beigetragen haben: Paul Gilroy, Lawrence Grossberg, Edward Palmer Thompson, Gayatri C. Spivak. Daraus entsteht ein gewollt polyphoner Band, der jedoch viele Querverbindungen ermöglicht und dessen rote Fäden folgende sind: die Entwicklung eines ‚situierten Wissens‘; die Artikulation class-race-gender; die Feststellung einer gemeinsamen Entwicklung von Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat; die jeweilige Rolle von Kultur und Kommunikation in diesen Entwicklungen.

Der Band zeigt, dass durch die Entwicklung eines feministischen und dekolonialen situierten Wissens in den Cultural Studies neue materialistische Ansätze entstanden sind, die sich teilweise gegen, teilweise mit dem Marxismus konstruiert hätten. Seit den 1970er Jahren finde diese Debatte – so die These des Buches – besonders in den Informations-, Medien- und Kommunikationswissenschaften statt, anhand von Studien über die Materialität von Sprache und Ideologie. Mehrere Beiträge sind demnach wichtigen Gründervätern und –müttern aus dem angelsächsischen und frankophonen Raum gewidmet, die in ihren Analysen eine enge Verbindung zwischen den sozialen Beziehungen und ihren sprachlich-ideologischen Vermittlungen postulierten: u.a. Raymond Williams, Stuart Hall, Monique Wittig oder Colette Guillaumin. Durch die Integration jüngster Debatten und Kontroversen in den Kulturwissenschaften, dem Feminismus und den Queer Studies erinnert der Sammelband auch an den affective turn der 1990er Jahre.

Eines der Hauptthemen des Bandes ist die Diskussion um den von Kimberlé Crenshaw geprägten Begriff der Intersektionalität, also der Überkreuzung von Dominanzverhältnissen innerhalb der Matrix race-class-gender. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem afro-amerikanischen Feminismus der 1990er Jahre. Besonders interessant ist hier die Reflexion über die komplizierte Rezeption dieses Paradigmas im französischen akademischen Bereich, wo die Auseinandersetzungen mit dem Rassismus oft außerhalb der Institution stattfinden. Außerdem zirkuliert in Frankreich ein konkurrierender Begriff zu Intersektionalität: die consubstantialité. Die französische Soziologin Danièle Kergoat, die ihn vorgeschlagen hat, bevorzugt diesen Begriff, weil er die wechselseitige Konstruktion (statt die Segmentierung) sozialer Beziehungen stärker betone.

Der Band liefert also eine Bestandsaufnahme der jüngsten Entwicklungen im Bereich der kritischen Kulturtheorie in Frankreich. Die großen Namen aus den anglophonen Cultural Studies wurden in Frankreich zwar spät rezipiert, aber diese Rezeption findet zu einem Zeitpunkt statt, wo französische Kulturforscher_innen – allerdings nicht immer unter dem Etikett der Kulturwissenschaften – selbst eigene Konzepte und Begriffe entwickeln, um eine kritische, situierte und politische Analyse von kulturellen Verhältnissen vorzunehmen.

Schließen wir mit einer Veranstaltung, die erst vor kurzem stattfand. Im Januar 2017 organisierte die Universität Paris Nord eine interdisziplinäre Tagung über „Disziplinarische Bezeichnungen und ihre Inhalte – das Paradigma der Studies.“ Im Zentrum der Tagung standen einerseits die Vielzahl der seit den 1960er und 1970er Jahren im englischsprachigen Raum entstandenen pluri-, inter- und transdisziplinären Forschungsfelder, die als Studies bezeichnet werden; andererseits ihre verspätete und teilweise zögerliche Rezeption in Frankreich. Natürlich wünschte man sich, dass besonders der deutsch-französische Dialog und die gegenseitige Rezeption diesbezüglich tiefer ginge. Doch in Frankreich geschieht zurzeit allerhand Neues im Bereich der Kulturforschung. Dies zeugt nach wie vor von der nicht vollständigen Disziplinierbarkeit der Kulturwissenschaften.

eISSN:
2545-3858
Languages:
German, English, French